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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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orientieren sie auf die weitere Durchführung von Demonstrationen als politisches Mittel zur Druckausübung. In diesem Sinne forderte Pfarrer Schorlemmer demagogisch die Veranstaltungsteilnehmer in der Schlosskirche/Wittenberg (31. 10. – 6500) auf, an Demonstrationen teilzunehmen und sich nicht zu wehren, wenn durch die Sicherheitsorgane Transparente weggenommen werden und sich nicht von Skinheads provozieren zu lassen, da diese durch den Staat gezielt eingesetzt würden. Insbesondere Forderungen und Vorbehalte gegenüber den Schutz- und Sicherheitsorganen weisen eine zunehmende Aggressivität auf.« 43
    Der Mielke-Bericht fährt fort, dass die Führungskräfte von Sammlungsbewegungen »in demagogischer Art und Weise den Eindruck vermitteln, wonach mit den Demonstrationen die eingeleitete Wende in der gesellschaftlichen Entwicklung ›erzwungen‹ worden sei«. Es habe auch die Bereitschaft breiter Bevölkerungsschichten zugenommen, »sich an friedlichen Demonstrationen zu beteiligen, um damit auf noch bestehende gesellschaftliche und territoriale Probleme aufmerksam zu machen«. Die Situation war zu diesem Zeitpunkt noch äußerst angespannt, denn das MfS war offensichtlich selber in Ängste verfallen, weil es angeblich in einigen Städten zu »handlungsstimulierenden Aufputschrufen« gekommen sei: »›Brennt das Haus nieder‹, ›Stasi-Schweine raus‹, ›Schlagt sie tot‹ oder ›Die Messer sind gewetzt, die Stricke liegen bereit‹«. 44
    Mir wird daran deutlich, dass noch am 7. November 1989 alles »auf Messers Schneide« stand. Ich erinnere mich, wie uns in diesen Tagen eine bisher nie empfundene große innere Gewissheit und Besonnenheit überkam, die Kraft verlieh, eine Kraft, die der Angst in uns keine Chance mehr ließ.

DIE TAGE DER BEFREIUNG
DER 9. OKTOBER UND DAS UNERLEDIGTE ERBE DER BÜRGERBEWEGUNG
    Ja, um Bürgerrechte für jeder-mann, jede Frau ging es mir und meinen Freunden zuallererst, allerdings in der engen, unauflösbaren Verbindung zwischen individuell-bürgerlichen und kollektiv-sozialen Bürgerrechten.
    Es geht um Brot und Freiheit, um Freiheit und Brot, nicht um Brot statt Freiheit, auch nicht um Freiheit statt Brot, nicht einmal um eine Vor- oder Nachordnung beider.
    Mich ärgert es, wenn immer wieder (durch manipulative Umfragen unterstützt) eine rhetorische Schimäre durch die Feuilletons gejagt wird, die es meist gleichlautend auf die ersten Plätze der Tagesschau schafft, die Ostdeutschen würden bei der Wahl zwischen Freiheit und Gleichheit immer die Gleichheit wählen. Das ist inzwischen eine propagandistische Formel geworden.
    Ostdeutsche würden auch das Individuelle dem Kollektiven unterordnen und zu viele Erwartungen an den Staat richten. Ich beobachte, dass Leute, die sozial rausgefallen sind, nun wenig oder gar nichts von der Freiheit haben und halten, bis sie diese geringschätzen oder verachten, gar anfangen, die Bedingungen der Unfreiheit zu glorifizieren. Wer in Zeiten der fürsorglichen Diktatur des DDR-Sozialismus nichts weiter entbehrt hatte außer dem größeren Warenangebot, dem ist die Freiheit im Grunde egal. Ich zähle es zum verheerenden Erbe des »real existierenden Sozialismus«, dass er gleichzuschalten versuchte und – statt eigenständiges Denken zu fördern – eine Einheits- und Wahrheitsideologie eintrichterte undsie mit Macht durchzusetzen sich anschickte. Das Kommunistische Manifest hatte noch (oder schon!?) die Vision einer Gesellschaft als einer freien Assoziation freier Bürger, in welcher die Freiheit eines jeden die Bedingung der Freiheit aller wird. Das Lied der Freiheit singen heutzutage am lautesten die, die sich die Freiheit leisten können und die noch nicht in Kellerlöchern gesessen haben. Inzwischen spricht man fast nur noch von »ehemaligen Bürgerrechtlern«, wenn man die Matadoren des Herbstes 1989 zitiert oder als Gewährsleute einer prinzipiell antikommunistischen Haltung zu Worte kommen lässt. Demgegenüber halte ich fest: Wo immer Menschenrechte verletzt werden, melden sich Bürgerrechtler – oder sie sind in der Tat ganz »Ehemalige«. Ich vermisse in der Tat seit Jahren den Protest einiger der lautesten Bürgerrechtler, die auf dem stinkenden Erbe des Mielke-Imperiums beruflich sitzen, gegen das, was in Tschetschenien angerichtet wurde, gegen Morde an Journalisten, die in Russland begangen wurden und werden. Ich denke an Anna Politkowskaja. Und ich denke an diverse Machenschaften der CIA, an Guantánamo, an das Durchgreifen

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