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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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Frucht eine Gnade ist. Wie selbst das unscheinbare Senfkorn ein Baum wurde, so können wir vertrauen, dass etwas werden kann mit uns, unter uns, etwas vom Reiche Gottes, dass wir genannt werden können ›Bäume der Gerechtigkeit‹ und ›Pflanzung des Herrn‹, uns selbst und anderen zur Freude.« 38
    Ich musste und ich wollte mich allmählich mit diesem Raum anfreunden. Also versuchte ich, die normalen Gottesdienste (zu denen wahrlich nicht viele Menschen kamen) in den Chorraum zu legen. Die Besucher sollten sich in das Fürstengestühl setzen. Das war mein erstes befreiendes Erlebnis. »Ihr seid Fürsten. Und nicht Untertanen der Fürsten. Setzt euch auf die Plätze der Fürsten. Das Priestertum aller Gläubigen verträgt keine Hierarchien. Dies ist euer aller Ort und nicht die Stätte angemaßter Würdigkeit Einzelner gegenüber oder über anderen.«
    Mich hatte spontan der Satz in der Eingangshalle der Alten Universität (in deren Räumen wir 14 Jahre lang wohnensollten) beeindruckt. Denn da stand: »Niemand lasse den Glauben daran fahren, daß Gott an ihm eine große Tat tun will. Martin Luther«. Bei der Renovierung sollte dies übermalt werden. Ich konnte mit Bitten und Protest erreichen, dass dieser Vers bliebe. Jeden Tag ging ich mindestens einmal darunter durch. Vorn, auf dem schon durchhängenden, alten Balken steht das trotzige »Ich hab all hier zu Wittenberg einmal des Papstes Dekret verbrannt und wollt’s noch einmal tun.« Diesem kämpferischen Geist Luthers stand ich nahe. Damit konnte ich mich anfreunden. Und noch viel mehr mit dem, was unsere Vorväter an die Rückseite des zweiten Tragebalkens geschrieben hatten; eine wunderbare Ermunterung, eine wunderbare Ermutigung: »Es liegt nichts an mir, aber Gottes Wort will ich mit fröhlichem Herzen und frischem Mut verantworten, niemand angesehen, dazu mir Gott einen fröhlichen und unerschrockenen Geist gegeben hat.«
    Um den Schlosskirchenturm ist eine Mosaikbanderole angebracht, seit 1892: »Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen.«
    Es lösten sich einzelne Mosaiksteine und drohten, Passanten und Besuchern auf den Kopf zu fallen. Einige Amerikaner suchten immer den Boden ab, um eines von diesen Mosaikreliquien mitnehmen zu können. Für eine Predigt 1980 ging ich mit meinem kleinen Diktiergerät durch die Stadt und befragte die Leute, welche Parole man jetzt dort anbringen solle. Es gäbe, fabulierte ich, eine Diskussion darüber, ob man dieses alte Kirchenlied weiterhin belässt und ob das Wort »Gott« unsere Stadt gut repräsentiert, zumal mit dem Wort »Waffen«. Ich verwies darauf, dass unterhalb des Schlosskirchenturmes der T34 auf einem Sockel stand und man immer aus der Perspektive des Panzers die Kirche sah. Also fingierte ich eine Diskussion darüber, ob man einen neuen Text anbringen sollte, z. B. »Lernen, lernen, nochmalslernen. Lenin« oder vielleicht »Seid nett zueinander« oder einen anderen Vers aus dem Lied »Groß Macht und viel List sein grausam Rüstung ist«, wobei ich vorschlug, »groß Macht« in einem Wort zu schreiben: Großmacht. Ich erntete verdutzte Gesichter, Kopfschütteln, Lachen. Aber die Mehrheit, auch die Nicht-Christen, war dafür, dass man die alte Umschrift erneuern solle. Ich hielt darüber eine Predigt.
    Das hab ich immer wieder versucht: Texte gegen den Strich zu lesen, durch Verfremdung auf Hintersinn zu kommen. Das war die besondere Lust in Zeiten der Beobachtung jedes Wortes. Wenn es da heißt: »Groß Macht und viel List«, dann, habe ich gesagt, heißt das auch »Großmacht mit viel List«, mit Verleumdung, Verlockung, Entstellung und Eifer. Wenn es da heißt: »Mit unserer Macht ist nichts getan«, dann drückt das meine Ohnmacht aus, mein Gefühl, vom Rad der Geschichte überrollt zu werden, sowieso nichts machen zu können. So kann ich dann auch in die Bitte einstimmen: »Es streit’ für uns der rechte Mann« und vertraue darauf, dass dieser rechte Mann durch viele Frauen und Männer heute wirken kann und wirkt. »Und wenn die Welt voll Teufel wär und wollt uns gar verschlingen, so fürchten wir uns nicht so sehr.« Man kann wissen, dass die Welt verschlungen werden kann. Aber über allem und hinter allem steht das Wort des Herrn, das verletzliche und verlässliche Wort, das Wort über dem Anfang. »Und siehe, es war gut.« Und das Wort über dem Ziel: »Siehe ich mache alles neu.« In einer Welt der totalen Kontrolle, wo das Hauptwort nicht Vertrauen, sondern Kontrolle war,

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