Klar sehen und doch hoffen
Lasst uns bleiben im Widerstandgegen Verkrümmungen, im Widerstand gegen die Vorrechte Einzelner. Und lasst uns bleiben in der Hoffnung.«
Nirgendwann habe ich so stark erlebt, dass Worte Kraft hatten, Menschen zu ermutigen, zu orientieren, aufzurichten, zu erwärmen und nicht zu verbittern, zu orientieren, ohne ihnen etwas zu suggerieren. Es war nicht das schwarze Wort mit seinen verheerenden Wirkungen, von dem Hilde Domin geschrieben hatte, sondern es war das Wort, das nicht am Ende war, sondern das, was am Anfang war und einen neuen Anfang schuf.
Nach genau 29 Jahren und acht Monaten habe ich am Reformationstag 2007 als Pfarrer meine Abschiedspredigt in der Schlosskirche gehalten. Wieder war turnusgemäß der Jesaja-Text (Jes. 62,6–12) dran, der am Reformationstag 1989 die Grundlage für die Predigt gewesen war. Ich dachte nach über die Steine, die in den letzten zwanzig Jahren einfach liegengeblieben waren. Die Stolpersteine des alten Adam, die immer wieder im Weg liegen, sofern wir alle nicht beständig dabei bleiben, sie uns aus dem Wege zu räumen. Die Gleichgültigkeit, die Selbstverdummung, den Ausländerhass, den Erinnerungsschutt, den Frust, die Gier, das Machtstreben, die Bürokratie, neue Drogen und neue Dogmen, Gammelfleisch und Abwanderung, Korruption und Werteverfall, Börsenspekulationen und Altersarmut, Kinderlosigkeit, Schandlohn. All diese Steine lagen als große Pappkartons auf dem Wege hoch zur Kanzel. Ich warf sie über Bord. Hinunter in den freien Raum. Und sie wurden aufgesammelt. Über dem Grabe Martin Luthers: Steine zur Erinnerung, Steine, die es wegzuräumen gilt, Steine, die uns vom Herzen fallen, Steine, die uns auf dem Herzen liegen bleiben. Ich meine, dass auch diese Steine zu Bausteinen werden, wenn wir alles, was uns belastet, nicht bloß hinter uns lassen oder es gegen anderewenden, sondern es integrieren. Steine, die im Wege liegen, wegträumen und wegräumen. Einer für den anderen.
Für mich bleibt auch die Schlussvision des »Kaukasischen Kreidekreises« von Brecht einleuchtend: Die wahre und die falsche Mutter streiten sich um das Kind, und die falsche Mutter ist bereit, das Kind zu zerreißen, um es für sich zu haben. Das Schlusslied hört sich wie eine biblische Vision an:
… daß da gehören soll, was da ist
Denen, für die es gut ist, also
Die Kinder den Mütterlichen, damit sie gedeihen
Die Wagen den guten Fahrern, damit gut gefahren wird.
Und das Tal den Bewässerern, damit es Frucht bringt. 40
Keine Gleichmacherei, aber Gerechtigkeit in den Sozialbeziehungen mit Chancengleichheit! Unsere Demokratie hat nur Bestand, wenn sie Akzeptanz bei den Menschen findet. Und Akzeptanz findet sie auf Dauer nur, wenn die beiden Werte Freiheit und Gerechtigkeit zusammen bleiben und durch die Solidarität aller zusammen gehalten werden.
Die Früchte der Arbeit, das hat schon der Prophet erkannt, sind auch für die da, die sie angebaut haben. Und diejenigen, die den Weinberg mühsam beackern, haben auch ein Anrecht auf die Trauben, auf den Wein, auf das Fest.
Von dieser Abschiedspredigt bleibt leider fast nur in Erinnerung, dass ich »da was von der Kanzel heruntergeschmissen« hätte. (Mehr und mehr zählt auch in der Kirche das Spektakulum – bis bei dem Kampf um Aufmerksamkeit nur noch Event als Sieg der Leere über die Lehre übrigbleibt!) Bei einigen mag haften geblieben sein, was ich heruntergeschmissen habe und warum . Ich vertraue einfach darauf, dass sich mancher doch seinen Reim darauf macht, was wir nämlich mit den Steinen tun, die uns heute im Wege liegen.Ausgerechnet in einer solchen wilhelminischen Kirche mit einer Untertanen-Tradition samt deren bellizistischen Ingredienzien hatte uns 1989 der Atem der Freiheit angeweht. Martin Luthers Geist, angereichert durch Martin Luther King, hat uns getragen. Ja, vielmehr noch das unmittelbare Sprechen der Heiligen Schrift in die Situation hinein. Die Pfarrer konnten reden, die Menschen konnten hören, die Herrscher traten ab. Bürger kamen ganz freiwillig, und sie wollten die Freiheit – aber natürlich auch äußerlich besser leben. Bald sollte die Sehnsucht nach der D-Mark und all dem, was sie repräsentierte, größer werden als die Sehnsucht nach der Demokratie. Unsere »Gebete um Erneuerung« vom 10. Oktober 1989 bis zum 18. März 1990 haben zum friedlichen Verlauf der Revolution entscheidend beigetragen. 41 Es liegt noch viel Arbeit vor uns Heutigen und vor den nächsten Generationen, bis die Freiheit eines
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