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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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Christenmenschen in einer freien und rechtstaatlich verfassten Gesellschaft Gestalt gewinnt.
    Am 13. September 2001 – drei Tage nach dem folgenreichen terroristischen Anschlag – habe ich vor Hunderten aufgewühlten Bürgern in der Schlosskirche ein Friedensgebet gehalten. Die Spaßgesellschaft war am Ende. Die Weltmacht stand am Scheidewege. Die eine Welt sind wir bisher nur im Unglück. Gerade jetzt brauchten wir alle Entschlossenheit im Kampf gegen den Terror, den Mut zum Frieden, aber nicht den Furor der Vergeltung. 42
    Am 1. Dezember 2007 hab ich mich von meinem Pfarrdienst mit einer Andacht in der Schlosskirche verabschiedet. Waltraut Wächter, erste Geigerin des MDR-Sinfonieorchesters spielte die Chaconne von J. S. Bach von einem Faksimile des Bach’schen Originals. Das reicht in Tiefen, die kaum anders zu erreichen sind.
    Ich erinnerte mich besonders dankbar an meine beiden inzwischen verstorbenen Kollegen und Amtsbrüder PropstHans Treu und Dr. Hansjürgen Schulz. Und ich las meine Meditation von 1983 – vor dem geschmiedeten Friedensleuchter und dem knienden Kurfürsten aus Alabaster.
RUFE NACH EINER NEUEN REFORMATION?
    In der »New York Times« vom 4. November 1989 berichtete Serge Schmemann, der 1991 den Pulitzer-Preis für seine Berichterstattung über die deutsche Neuvereinigung erhalten sollte, ausführlich über unser »Gebet um Erneuerung« am 31. Oktober 1989. Schmemann hörte – so formulierte er es in der Überschrift seines Artikels – am Jahrestag der alten Reformation in Wittenberg Rufe nach einer neuen. Es sei schwierig, schrieb er, sich vorzustellen, was Martin Luther an diesem Jahrestag seines Thesenanschlages wohl über die Menschenmenge in der brechend vollen Schlosskirche gedacht haben könnte. Die Gleichzeitigkeit sei den Leuten und dem Pastor bewusst. In Wittenberg hätten sich in den vorangegangenen drei Wochen immer mehr Leute in der Schlosskirche versammelt, »um an der neuen Graswurzelbewegung für Veränderung teilzuhaben«. Nun sah er mehr als 3000 Menschen in der Kirche und die gleiche Zahl draußen vor der Türe, »um über Lautsprecher den Forderungen, Ansprachen und Gebeten zuzuhören – dem täglich Brot des jüngsten osteuropäischen Landes, das von the winds of change durchgerüttelt wird«.
    Ich werde mehrfach in dem Artikel zitiert: »Ein neues Volk, eine neue Bürgerschaft wurde in den Demonstrationen geboren … Wir sind das Volk. Wir wollen unsere Deutsche Demokratische Republik. Wir wollen Reform, Erneuerung. Wir wollen sagen ›Wir bleiben hier‹.« Der Artikel berichtet ausführlich über unsere Forderungen, sogar darüber, dass wirauch bessere Wohnungen für alte Menschen in Wittenberg gefordert hatten. Doch, so Schmemann, der Jubel war dann am lautesten, wenn gefordert wurde, die Stasi »in die Produktion« zu stecken.
    An den Informationstafeln in der Kirche fand der Journalist Informationen über das Neue Forum, Demokratie Jetzt und den Demokratischen Aufbruch. »Und von der Kanzel fassten Pastor Schorlemmer und andere Redner das vorherrschende Gefühl in Worte: ›Wir dürfen nicht zu hoffnungsvoll, noch sollten wir zu skeptisch sein. Es gab einen enormen Wandel, doch das ist nicht genug. Die Frage ist, wie wir den Wandel verstetigen können. Aber der Konflikt‹, betonte er, ist keiner zwischen Kirche und Staat, ›sondern zwischen dem Volk und dem Staat‹«.
    Schmemann berichtete auch über die anschließende Demonstration und den Thesenanschlag an der Rathaustür. Einige würden ein »Sing-in« im Stil der 60er-Jahre mit Protestsongs der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung veranstalten. Wittenberg beschrieb er als stark umweltverschmutzte Stadt. Da die Reformforderungen abseits von Ostberlin oder Leipzig so viele Menschen auf die Straße brachten, müsse es sich um eine Volksbewegung handeln, deren tatsächlicher Umfang allen Annahmen und Stereotypen über die Ostdeutschen widerspreche.
    Die »New York Times« war also unter uns, ohne dass wir irgendetwas gemerkt hätten. Jedenfalls dirigiert hat sie uns nicht. Im letzten überlieferten Bericht, den der »Genosse Minister« Mielke selbst unterschrieb und erst am 7. November, dem Tag des Rücktritts der Regierung Stoph, als »streng geheim« weitergegeben hat, heißt es:
    »Vertreter antisozialistischer Sammlungsbewegungen, wie die Pfarrer Tschiche/Magdeburg und Schorlemmer/Wittenberg,heizen nach wie vor zu solchen Veranstaltungen die Stimmung gegen die Partei- und Staatsführung an; vor allem

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