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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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bevorzugter Raum der Selbstklärung und der Selbststärkung, der Katharsis durch Schuldeingeständnis und eines Zuspruchs, über die ein Mensch nicht verfügen kann. Ich selber bin ja im Schatten der großen »Glucke« in meiner Heimatstadt Werben groß geworden. Stendal, Tangermünde, Jerichow, Gardelegen, Seehausen, Ahrendsee, Salzwedel: Das ist meine Heimat. Auch architektonisch. Und nun nach Wittenberg.
    In einer ZDF-Umfrage im Jahre 2008 wurde der Platz vor der Schlosskirche zum drittschönsten Platz Deutschlands erkoren. Ich mag das nicht glauben. In der Schlosskirche predigen – kann man in einer Kirche auch gegen sie predigen? Ihr ist anzusehen, dass sie als Garnisonskirche gedacht war. Als einmal an einem Sonntag etwa hundertfünfzig sowjetische Soldaten in feinen Uniformen in die Kirche strömten und sich ganz brav in die Bänke setzten, in Reih und Glied, spürte ich, was Garnison in der Kirche heißt.
    Im September 1978 wurde ich dort eingeführt. Gedacht war meine Berufung auch als ein Ausgleich zu gewissen Einseitigkeiten meines Kollegen, des Direktors Dr. Hansjürgen Schulz. Damals war es Mode, nicht zu fragen, was ein Pfarrer gesagt hat, sondern wie sich die Gemeinde gefühlt hat bei dem, was sie da gehört hatte. Und Bischof Werner Krusche schärfte mir in seiner Einführungspredigt ein, man dürfe nicht nur fragen: »Was hast du gefühlt?«, sondern auch: »Was hat er gesagt? Was hat er mir gesagt?« Aber wieso sagte er mir das?
    Es ging auch um die politische Haltung. Hansjürgen Schulz war der DDR gegenüber so aufgeschlossen, dass drei seiner Kinder zur Jugendweihe gegangen waren und am Montagmorgen immer im Blauhemd das Seminargebäude,in dem auch die Dozenten wohnten, verließen. Sein jüngster Sohn Friedrich hatte aus eigener Entscheidung nicht an der Jugendweihe teilgenommen und sich zu den Bausoldaten gemeldet. Im Übrigen habe ich die großen Begabungen meines Kollegen bewundert und auch davon profitiert – und sei’s im Strittigen zwischen uns, theologisch wie politisch. Aber kein persönlicher Streit!
    In der Schlosskirche sollte ich fortan predigen, im Schatten Luthers. Mir war der wilhelminische Geist, den diese Kirche ausstrahlt mit ihrer eigentümlichen Steifheit, fremd. Auch das Grab Luthers unter der Kanzel. Insbesondere aber die preußische Pickelhauben-Performance als Turmhaube. Ich predigte im September 1978 über Bäume und meinte, Theologie müssten wir fernerhin so betreiben, dass Bäume wachsen können. Ich war ja aus einer ökologischen Giftküche gekommen. »Über Bäume möchte ich sprechen. Nicht über Nutzhölzer, auch nicht über Schlagbäume, sondern über Bäume vor unserer Tür, im Lutherhof, an einem Brunnen. Auch über Apfelbäume, kleine blühende. Also etwa: über Bäume, Luther, Brecht und uns. Was haben Bäume mit dem Glauben zu tun, frage ich, fragen Sie? Ist sie vorstellbar, unsere Erde, ohne Bäume? Und, glaubt man der Offenbarung, ist es auch das Paradies nicht. Verwoben sind Bäume mit menschlichem Geschick, von Beginn an. Da wird etwas entschieden, verdeutlicht, verglichen: Der Baum des Lebens steht neben dem Baum der Erkenntnis, oder ist er gar identisch mit ihm? Der kleine Gernegroß Zachäus braucht einen Baum zu seiner Rettung. Von ihm herab kann er den Herrn rufen und erfährt etwas vom Paradies. Ein Ölbaum wuchs und zeigte Noah das Ende der Flut an: Es gibt wieder festen Boden unter den Füßen. Neubeginn, wo ein Baum wachsen kann.
    Luthers tröstliches Sprüchlein ›Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, so würde ich heute mein Apfelbäumchenpflanzen‹ bedeutet auch: einem Bäumchen alle Hoffnung für diese Erde anvertrauen. Und so wird’s nötig sein, über den blühenden Apfelbaum zu schreiben, ihn zu sehen, nicht bloß sich drängen zu lassen durch die Reden und Taten der Hitler und Somoza, durch die Urteile gegen Ben Chavis, Steve Biko und Rudolf Bahro. Wir müssen beides tun, beides aushalten – Apfelbäume und den Schrecken, hin- und hergerissen zwischen Freude und Zorn. Mancher kommt hier an, ist gezeichnet von seinen Erfahrungen, ist windflüchterartig, geknickt, zerzaust, knorrig, entwurzelt oder aber frisch rausgeputzt, begierig herauszuwachsen, über sich selbst hinauszuwachsen. Einer kommt mir vor wie ein Stumpf, abgehauen, der dem Reis nicht glaubt, das da aus ihm noch heraussprossen kann, zaghaft. Jeder von uns ein Baum, der versucht, ein guter Baum zu sein und gute Frucht zu bringen, und der weiß, dass die

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