Klar sehen und doch hoffen
die neue, für die neue Zeit.
Dafür müssen wir uns von den alten, festgelegten Schulen befreien. Wir wollen keine Scholastik betreiben, sondern eigene Erkenntnis gewinnen.
Als erfahrener Mann sage ich ihnen: ›Die Welt will Meister Klügling bleiben und muss immer das Ross am Schwanz aufzäumen, alles meistern und dabei doch selber nichts können. Das ist ihre Art, von der sie nicht lassen kann.‹ Ich habe eine Bitte: Die Menschen da drüben wissen herzlich wenig von unserer christlichen Tradition, geschweige denn von den Ursprüngen. Sie können nichts dafür.
Nichts ist für die Stadt besser als gebildete, wohlerzogene, rechtschaffene Bürger – und natürlich Bürgerinnen! – jedenfalls Leute, die selber urteils- und entscheidungsfähig sind. Und bringen Sie den Menschen dort das rechte Verstehen der Heiligen Schriften bei, meinetwegen auch das linke. Niemand von diesen grobschlächtigen Leuten möge vergessen,dass es eine große Gabe und Aufgabe ist zu leben. Niemand lasse den Glauben daran fahren, dass Gott an ihm eine große Tat tun will.«
Zusammen mit den auf der Elbbuhne Versammelten zogen wir mit Tamtam über die Elbwiesen gen Wittenberg, bestiegen ein Pferdefuhrwerk, das uns von Schloss und Schlosskirche bis zum Lutherhaus, mitten durch die Stadt kutschierte. Der »alte Luther« erzählte dem »jungen Luther«, was dieser in den folgenden 38 Jahren in Wittenberg in Gang setzen werde. Und viel Volks lief ihm nach … an jenem Septembernachmittag, bis der junge Professor Luther in seinem Schwarzen Kloster verschwand.
Unter dem Titel »Was protestantisch ist« habe ich heute noch relevante Texte aus 500 Jahren Reformation zusammengestellt. Dieses Buch stellte ich im Lutherhof an jenem Nachmittag der versammelten Bürgerschaft vor. Auf diese Weise wollte ich deutlich machen, dass »Luther-Dekade« nicht Klamauk bedeute, sondern Rückbesinnung und Aufforderung an die Kirchen, sich darüber zu verständigen, wozu sie gemeinsam da sind. Dabei hat das Spielerische durchaus seinen Platz, auch wenn die Katholiken das besser können mögen.
IN DER SCHLOSSKIRCHE PREDIGEN
Strikt habe ich sie gemieden, diese am Bahnhof als LuWi ausgewiesene Lutherstadt Wittenberg, wo ich doch so oft von der Halleschen Martin-Luther-Universität kommend nach Berlin gefahren war, über die großen Elbwiesen den Schlosskirchenturm anschauend. Das schreckte mich ab. Mit solchem Luthertum im Kaisertum wollte ich nichts zu tunhaben. Auch in den acht Jahren in Merseburg bin ich kein einziges Mal mit den Studenten nach Wittenberg gefahren. Bis dann Oberkirchenrat Konrad von Rabenau mich buchstäblich überredet hatte, nach Wittenberg zu gehen und am dortigen Predigerseminar die zweite Ausbildungsphase von jungen Theologen zu begleiten.
Ich war und bin in der Backstein-Gotik wie in der Romanik zu Hause, in kleinen alten Feldstein-Dorfkirchen wie in großen Backsteinkathedralen. In diesen fühle ich mich wohl. Sie erfüllen mein Gemüt so, wie ich es mit Matthias Eisenberg am Cembalo in der Klosterkirche in Jerichow 2010 erfahren habe. Das ist meine Welt. Zum Barock habe ich Distanz, und den Reiz von Sandstein entdeckte ich erst langsam.
Ich bin überdies überzeugt, dass wir überall »die Kirche im Dorf lassen« sollten. Ganz wörtlich und übertragen, auch in den einstigen Stadtkernen. Die Redewendung deutet ursprünglich auf den unverwechselbaren, unverzichtbaren, unveräußerlichen (und zu pflegenden) Mittelpunkt einer Stadt oder eines Dorfes. Die jeweilige Kirche schließlich ist auch für diejenigen »unsere Kirche«, die nicht zur Kirche gehören oder den christlichen Glauben nicht teilen. Kirchen sind Identifikationsorte in ihrer Schönheit und Einmaligkeit, wiewohl sie alle einen bestimmten Stil haben.
Sie sind Teil der Identifikation stiftenden Erinnerung – erhalten und wiederhergestellt nach Feuersbrünsten oder kriegerischen Zerstörungen.
Ich denke an den emotionalen Wert der Dresdener Frauenkirche und der Kreuzkirche, an den Dom zu Münster oder die Marienkirche in Kiel – alle aufwendig wieder aufgebaut, Wahr-Zeichen der Städte. Auch die merkwürdige Schlosskirche. Aber die steinerne Hülle macht’s nicht, sondern es geht darum, wie die Kirchen wieder Lebensorte für Menschen werden, diese sich darin beheimaten, sie die Räume als besondereOrte des Feierns und des Klagens, der Orientierung und der Ermutigung, der Meditation und der Gemeinschaft, der Stille und der Musik erfahren. Jede Kirche ist ein
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