Klar sehen und doch hoffen
! Später hieß es nur noch: »Wir sind ein Volk«, und das zielte einzig auf die deutsche Einheit.
Ich war und bin davon überzeugt, dass der Umbruch in der DDR, diese »friedliche Revolution«, nur gelingen konnte, weil in der unabhängigen Friedensbewegung von Suhl bis Rostock nach einer langen inneren Vorbereitungsphase die Gewaltlosigkeit zum umfassenden Handlungsprinzip wurde, weil dieses Prinzip politisch griff und ihm die Volksmassen so besonnen wie entschlossen folgten.
1989 geschah etwas, womit wohl niemand gerechnet hatte: Aus der jahrzehntelangen Friedensarbeit der (jungen) Gemeinden heraus wurde der Geist Martin Luther Kings politisch wirksam. Der Geist der Gewaltlosigkeit, der für mich mutigste wie anmutigste Geist, trug Menschen durch dramatische Konflikte hindurch. Er hat zur Freiheit ermuntert, und er hat Frieden gestiftet. »Welche Zuversicht hast du für dein Tun?« Und: »Welche Strategie hast du, um etwas praktisch Erfahrbares zu erreichen?« Diese beiden Fragen gehören für mich zusammen.
Die Staatsorgane warfen der Kirche immer wieder vor, sie kopple sich vom System ab, bekämpfe es und missbrauche ihre Räume als Oppositionslokale. Als Manfred Stolpe auf der Bundessynode 1986 in Erfurt unmissverständlich erklärte, Kirchen seien »keine Oppositionslokale«, habe ich ihm in der Plenardebatte öffentlich widersprochen und gesagt, das Wort Opposition gehöre nicht ins Strafgesetzbuch, es bedeute kritische Teilhabe, nicht Gegner-, gar Feindschaft.
Freilich gab es Gemeindemitglieder, die mehr und mehr Angst bekamen. Sie fürchteten angesichts einer politisierten Kirche und eines wachsenden Konflikts der Institution mit dem Staat, selbst kriminalisiert zu werden. Kirchenleitende Personen haben ständig vermittelt zwischen engagierten Gruppen und traditioneller Gemeindearbeit. So konnten atmosphärischeTrübungen überstanden werden, wie sich z. B. in den Abschlusspapieren der Ökumenischen Versammlung vom April 1989 zeigte. Besonders Manfred Stolpe hat sich »auf seinen Kanälen« als Mann der Kirche und Anwalt der Bedrängten für Deeskalation eingesetzt. Wer unsere damaligen Handlungsspielräume außer Acht lässt, ist für mich unredlich oder leidet an Amnesie.
Wenn ich an die DDR-Zeit erinnere, will und darf ich Folgendes nicht vergessen: Für die Staatsorgane war das Bedrohlichste, dass die kleinen Gruppen ihre Aktivitäten vernetzten oder gar politische Konzepte entwickelten. Wir blieben wohl meist unterhalb dessen, was wir eigentlich sagen oder tun wollten, weil wir wussten: Falls wir weitergehen, dann geht es auf jeden Fall nach Bautzen. Richtig ist die nach 89 vielfach getroffene Feststellung, dass wir kein ausformuliertes politisches Konzept hatten, etwa für die Bildung einer pluralistischen Demokratie. Stürzen war das eine – etwas aufbauen das andere. Der Zusammenbruch der SED-Herrschaft hat uns kalt erwischt, als wir plötzlich aufgerufen, in die Freiheit versetzt, auch gezwungen waren, Parteien zu gründen. Wer hatte zu dieser Zeit ein Programm, und wem trauten die DDR-Bürger zu, den Karren aus dem Dreck zu ziehen? Woher sollte das Geld kommen und woher unbelastete und in juristischen, ökonomischen, verwaltungstechnischen Fragen »auf Anhieb« kompetente Leute?
Unser Wittenberger Kreis hatte im Juni 1988 zum Hallenser Kirchentag »20 Thesen zur gesellschaftlichen Erneuerung« vorgelegt. Sie galten bei der Staatssicherheit als das erste konzeptionelle Papier der Gegenseite und wurden als so gefährlich eingeschätzt, dass sie auf dem SED-Plenum im Dezember 1988 Gegenstand einer Polemik wurden. Dabei handelte es sich nur um eine Zusammenstellung dringend zu lösender Probleme, nicht um strategische Gedanken, dieauf eine staatliche Alternative hinausliefen. Der Sektorenleiter beim Staatssekretär für Kirchenfragen, Voigt, kam zu mir und attackierte mich: »Das Wort Sozialismus kommt bei Ihnen gar nicht mehr vor!« Dass wir »Rahmenbedingungen verändern« wollten, galt ausdrücklich als konterrevolutionär. Deshalb beschäftigten sich die Abteilung PUT (Politische Untergrundtätigkeit) und die Abteilung PID (Politisch-ideologische Diversion) umfassend mit mir.
Wir wollten einen grundlegenden gesellschaftlichen Dialog eröffnen, um einen politischen Umbruch zu erreichen. »Der Sozialismus braucht die Demokratie wie die Luft zum Atmen. Gorbatschow« Vom Sozialismus hatten wir uns gedanklich bereits so weit entfernt, dass uns dieses Wort überhaupt nicht mehr in den Sinn kam.
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