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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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hieß, sich nicht mehr mit der Lüge abspeisen lassen, wenigstens Wahrhaftigkeit suchen.
    1968 hatte ich gegen den Einmarsch in die ČSSR protestiert. Ich schrieb die allgemeine Erklärung der Menschenrechte und später Texte der KSZE ab und verbreitete sie. Meine Bibelarbeit auf dem Kirchentag 1987 wurde in einem Stasibericht festgehalten: »Seine Angriffe richtete er weiterhin gegen die Staatsgrenze sowie die ideologische Abgrenzung, sprach über die Verletzung von Menschenrechten sowie die Notwendigkeit, mehr individuelle Freiheit zu gewähren. … Man könnte sich nicht mehr mit dem realen Sozialismus begnügen … Das Publikum applaudierte bei jedem Satz, den Schorlemmer als seine Zukunftsvision bezeichnete. ›Ich sehe ein endgültig innerlich und äußerlich entmilitarisiertes, neutralisiertes, entblocktes deutsches Land vor mir in einer europäischen Friedenswelt. (starker Beifall) … Die besten deutschen Traditionen sind nicht mehr der korrekte Stechschritt und obrigkeitlicher Angstgehorsam, sondern menschliche Zuverlässigkeit und persönliche Gewissensverantwortung. Von deutschem Boden geht Frieden aus – das steht nicht nur in der Zeitung. Ich sehe eine weltoffene Gesellschaft – wir grenzen uns nicht ab und auch nicht ein. (starker Beifall) Soziale und individuelle Menschenrechte werden nicht mehr gegeneinander ausgespielt, sondern miteinander ausgefüllt.(Beifall) Die Freiheit eines jeden wird zur Bedingung der Freiheit aller – so Marx. Christen haben nicht die große kritische Klappe, sondern gehen mit kleinen Schritten mit den anderen mit. (Beifall) Der Austausch von Gedanken und Lebensweisen macht niemandem mehr Angst. Wir lernen von den anderen – keiner will den anderen mehr ablösen.‹«
    Im Spitzelbericht vom 16. November 1988 werde ich so zitiert: »Manche wissen, was sie an mir haben, es gibt eine ganze Reihe stalinistischer Krokodile, aber die sterben langsam aus. … die haben die oberste Order, still zu sein, greifen hier und da wieder zu, verbreiten Angst und Schrecken, im Grunde aber ist der Fluss frei.«
    Andere fanden erst (wieder) zu ihrem Ich, als sie mit dem Ende des SED-Staates selber denken durften und auch mussten . Sie gerieten in eine schwierige »Positionierungs«-Phase. Ende 1989 kam eine merkwürdige Redeweise auf: »Ich muss mich erst (zu dem oder dem Problem) noch positionieren.« Ich wusste in jenen dramatischen Monaten oft nicht, wer eigentlich wer ist und wer was denkt, will oder ablehnt. Was war Kalkül, was echt? Was war Wandlung, was nur Wendung hin zu einem erneuten Opportunismus?
    Als der Regimedruck gewichen, der Macht-Panzer gebrochen, der Atem nicht mehr flach war und die Freiheit des eigenen Denkens erprobt werden konnte, erwies sich, dass aufrechter Gang wahrlich Training voraussetzt. Nicht wenige suchten erneut nach Anlehnung und nach einem ganz vorn, der sagt, »wo es langgeht«. Helmut Kohl bot sich an, er versprach baldigst »blühende Landschaften«. Wohlstandswünsche siegten über Befürchtungen, erneut fremdbestimmt zu werden. Die Warner wurden abgetan, ihre Skepsis über die künftige Entwicklung im Osten, ihre Träume von einem »dritten Weg« seien ebenso realitätsfern wie ihre Blauäugigkeit zu DDR-Zeiten.
    Aber die Widerständigen in der DDR waren keineswegs »blauäugig«. Wir haben meist genau überlegt, was wir zum jeweiligen Zeitpunkt tun könnten und müssten. Wir haben unsere Wehr gegen den Staat verantwortungsbewusst kalkuliert, meist nicht gesinnungsethisch-utopisch gehandelt, sondern mit klarem Blick auf mögliche Gefährdungen und trotz allem mögliche Veränderungen, die nur mit unseren Gegnern, nicht gegen sie zu erreichen waren. Meine Maxime seit den siebziger Jahren lautete: nicht so weit provozieren, dass mich die Organe »mit Sicherheit« ins Gefängnis bringen. Ich wollte nicht durch Haft lebenslang geschädigt, gedemütigt, ins Alternativlose getrieben werden. Aus der Seelsorge und seriösen politischen Sendungen der Westsender, vor allem des Deutschlandfunks, wusste ich, wie Häftlinge in Bautzen zerstört wurden. Im Stasibericht vom 11. / 12. Juli 1988 heißt es: »Im Rahmen der operativen Bearbeitung des OV wurde ›Johannes‹ mehrfach und eindeutig die Verletzung des genannten Straftatbestandes nachgewiesen. Die entsprechenden strafrechtlichen Einschätzungen der Abt. IV belegen dies.« Der OV Johannes war ich. Mir war damals klar, dass man mich täglich wegsperren konnte; mich schützten kirchenpolitische

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