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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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Den Dialog hatte die Repressionspolitik der SED in den vier Jahrzehnten ihrer Herrschaft erfolgreich verhindert, sodass für die Ostdeutschen der Anschluss an die wirtschaftlich prosperierende und politisch funktionierende Bundesrepublik plötzlich als die beste und schnellste Lösung erschien.
DIE STIMMUNG EINER ZEIT BERÜCKSICHTIGEN
    Mir bleibt unvergessen, wie oft ich in meinem Leben beklommen als Einziger aufgestanden bin und mich die verkniffene Feindseligkeit der um mich herum Schweigenden weit mehr peinigte als die harsche Abweisung durch »die Offiziellen«. Ich hatte so oft das Gefühl, einen Frieden zu stören, der von Lügnern und Belogenen gleichermaßen, in böser Kumpanei fast, geknüpft worden war. Wie leicht war es, pathetisch das Borchert’sche SAG NEIN zu (re-)zitieren, aber wie schwer, im Geiste dieser Verse ganz konkret eine Unterschrift zu verweigern, wie schwer, als Einziger kein FDJ-Hemd zu tragen,wie schwer, bei einer Abstimmung bei der sogenannten Gegenprobe blitzartig mit »Nein« zu votieren; blitzartig, weil für die Gegenprobe meist nur wenige Sekunden blieben, ein »Nein« ist in einer totalitären Gesellschaft einfach nicht vorgesehen! Der Einzelne verschwindet in der Zustimmungsmasse, erst Volksgemeinschaft, später Kollektiv genannt. Der Kontrakt zwischen Herrschenden und Untertanen ist in allen Systemen psychisch und sozial fest geknüpft. Die geistig und politisch engmaschige Ideologie des Marxismus-Leninismus hatte mehr DDR-Bürger erfasst, als heute zugegeben wird. Viele beruhigten sich mit dem Satz, man habe doch schließlich guten Zielen gedient. So können Ideale zum Erstickungsteppich werden, es bildet sich allmählich Wirklichkeitsallergie heraus. Verstockung nannten das die alten Propheten: Nicht sehen wollen wird damit bestraft, dass man irgendwann nicht mehr sehen kann.
    Wer allerdings bei Urteilen die Stimmung, die Atmosphäre einer Zeit nicht in den Blick nimmt, kommt zu falschen Schlüssen, zu falschem Urteil, sofern er sich ausschließlich auf die Fakten und hinterlassenen Dokumente bezieht. Kierkegaard geht mir durch den Sinn: »Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.« Oder der Leipziger Aphoristiker Horst Drescher: »Wir wissen so ziemlich alles über die Zeit von 1945 bis 1933, aber fast nichts über die Zeit von 1933 bis 1945.« Wer redlich bleiben will, darf nicht vom Ergebnis her, er muss vom Ausgangspunkt her denken, muss alles mitfühlen wollen, was dieses letztlich wohl unentwirrbare Knäuel aus Kräften und Gegenkräften, Ängsten, Illusionen, Dummheiten, Klugheiten, Wissen, Unwissen bildet. Die Spur der Geschichte geht durchs Chaos, durchs Gestrüpp, sie ist keine schnurgerade Linie. Folgerichtigkeit ist das Nach-Wort, so wie überhaupt alle Philosophien nachträglich entstehen, dann, wenn man etwas überlebt hat.
    In welche Atmosphäre hinein wagte jemand in Mitgliederversammlungen der Gewerkschaft FDGB, das eigene Wort zu erheben? Wer nicht die Umstände, die Existenz- oder Karriereängste, die einschüchternde Kraft der staatlichen Inszenierungen mit bedenkt, diese Blicke aus den Augenwinkeln, wenn einer eigensinnig auftrat – der erhebt sich zum merkwürdigen Wesen, das offenbar frei ist von allen Bindungen an Zeit und Konstellationen. Aber das setzt die Feigen, die Mitläufer freilich nicht ins gleiche Licht, in dem die Mutigen, die Menschen des Gegenlaufs stehen. Das Bedenken der Zwänge, unter denen einer in die Starre gedrückt wird, verkleinert nicht die Preisung derer, die inmitten der Zwänge doch aufstehen und sich für die Einsamkeit entscheiden – in der sie aber ganz bei sich sind. Es ist kaum noch nachvollziehbar, was an Selbstüberwindung, an Herzschlag geleistet werden musste für so klare Sätze wie: »Ich gehe nicht an die Grenze.« »Ich will kein Kandidat der SED werden.« Oder auf der anderen Seite: »Ich will meinem Staat danken und diene drei Jahre.« Da lief auf der Unterzeile der unausgesprochene Satz: »Ich will doch studieren.«
    Neben dem Faktengedächtnis ist unsere Erinnerung bestimmt durch das Geruchs-, das Geschmacks-, das Gehör- und das Gefühlsgedächtnis. Wer weiß noch, wie die Tageszeitung »Freiheit« roch? Wie die DDR-Brötchen und -würstchen schmeckten? Wie schneidend die Stimme des Schuldirektors war? Wie lächerlich der sich überschlagende Sound Erich Honeckers klang oder wie kabarettreif (dabei so gefährlich selbstsicher) der sächselnde Singsang des Spitzbarts Ulbricht? Und welche

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