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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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Rücksichten. Bis in die letzten Wochen der DDR hat die Stasi in der »politisch-operativen Bearbeitung des OV solche Schwerpunktorientierungen wie Zersetzung, Disziplinierung und Zurückdrängung umgesetzt und realisiert. – Aufbauend auf der politisch-operativen und strafrechtlichen Bewertung des aktuellen Sachstandes des OV erfolgt die politisch-operative Bearbeitung derzeit gem. §§ 97, 98, 106 StGB.«
    Ich wollte nicht in den Westen, nicht abgeschoben oder freigekauft werden. Ich wollte in diesem Landstrich bleiben, bei den Menschen, denen ich mich verbunden fühlte. Dazu zählten Künstler, deren Werke mir in der Lüge Wahrhaftigkeit vorlebten.
    In meinem Ordinationsgelübde hatte ich mich an einen Ort gebunden, der mir für die verkündigende und seelsorgerliche Arbeit angetragen war. Ich wollte nicht heimatlos werden; ich selbst bestimmte, was mir Heimat war, nicht die Anmaßungsmaschine SED.
    Signifikant für die Unterscheidung zwischen Land und Leuten sowie dem politischen System und seinen Funktionsträgern wurde ein Spruch, der in manchen unserer Büros hing: »Bleibe im Lande und wehre dich täglich.« Für uns stand dahinter: Diejenigen, die hier die Macht ausüben, sind nicht legitimiert, ihnen gehört das Land nicht. Wenn wir in den Westen gehen, überlassen wir ihnen das Feld. Der Widerstand wird geschwächt durch jeden, der aus den Reihen tritt in Richtung Westen. Oft war das Ziel für uns weit in die Ferne gerückt, dennoch bemühten wir uns um den nächsten Schritt.
    Ich war nach 1968 davon überzeugt, dass Veränderungen nur gewaltlos und nur mit den Trägern des Systems zu erreichen wären. Nie habe ich den Versuch aufgegeben, mit Staatsvertretern zu kooperieren, die ein Gespür dafür erkennen ließen, dass sich die Kluft zwischen Propaganda und Wirklichkeit täglich vertiefte. Wir befassten uns mit aus dem Westen geschmuggelter links-liberaler Literatur, mit Texten kommunistischer Dissidenten wie Leszek Kołakowski, Werken von Herbert Marcuse oder Erich Fromm. Wir wollten als Wissende agieren, auf der Basis linken Gedankenguts argumentieren. Wir mussten uns die geistigen Grundlagen der emanzipatorischen Idee aneignen, wir mussten auch uns selbst befreien von ideologischem Vorurteil. Es musste uns um die Wahrheit gehen, ohne die Machtfrage zu stellen. Das hatte im Sozialismus bislang als Antwort nur Panzer provoziert. Wie wichtig waren für die Strategie gewaltloser Bedrängung des Systems Gedanken Robert Havemanns oder Rudolf Bahros. Zu unseren Hauptthemen gehörten die Verbindung von individuellen undsozialen Menschenrechten, die Verknüpfung des Friedens in der Gesellschaft mit der Abrüstung. Das sind Problemfelder, die bis heute immer neue Konflikte heraufbeschwören.
    Wir lebten in der DDR in zermürbender Alternativlosigkeit. Der Handlungsspielraum war gering, aber wir haben versucht, ihn auszufüllen und allmählich zu erweitern. Zu viele haben sich damals diese Freiheit nicht genommen, sondern darauf gewartet, dass ihnen Freiheit irgendwann gegeben wird. Nur wenige sind bis ans Äußerste gegangen, sind der Masse vorausgegangen; diese Propheten, Gesandte der Zukunft, mussten, wie Günter Kunert sarkastisch schrieb, »in unbequemen Unterkünften« auf die schweigende Mehrheit warten.
    Mir ist es wichtig, an drei kleine Gruppen zu erinnern, die am 9. Oktober 1989 – in der von polizeilicher Aggressivität begleiteten Agonie des Systems, also in gefahrvoller Situation – eine besondere Rolle für die friedliche Revolution gespielt haben: die Arbeitsgruppen »Frieden«, »Menschenrechte« und »Umweltschutz«. Ihr Aufruf ist nicht so medienwirksam geworden wie Kurt Masurs in Leipzig per Stadtlautsprecher verbreiteter. Aber als »Aufruf gegen die Gewalt« war er mindestens ebenso wichtig. Er kam von unten, und darin stand jener Satz, der später, als er überall laut wurde, eine gänzlich andere Bedeutung bekommen sollte: »Wir sind ein Volk.« 10
    Mit diesem – mahnenden – Satz war am 9. Oktober 1989 gemeint: Ihr Polizisten, ihr Kampfgruppen, ihr von der Armee, ihr von der Partei – wir sind mit euch gemeinsam ein Volk. Verhindern wir auch gemeinsam, dass ein Bürgerkrieg ausbricht! Gleichzeitig kam der Slogan » Wir sind das Volk!« auf. Wer heute das Wort »Volk« und nicht das Wort »wir« betont, verfälscht den Ursprungssinn. Denn dies war kein völkischer Satz, sondern ein Widerstandssatz gegen die Anmaßung der SED und deren Herrschaftsorgane: Wir sind dasVolk und nicht ihr

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