Klar sehen und doch hoffen
wollten doch nur die PDS reinwaschen oder – wie Biermann immer wiederholt – »mit ihr ins Bett gehen«. Die Erfurter Erklärung hat in der Tat vieles ausgelöst. Artikel wurden geschrieben, Reden gehalten, Foren veranstaltet. Im Frühjahr 1998 sprach ich bei einem Symposium der Sozialdemokratischen Gemeinschaft für Kommunalpolitik in Wittenberg über das Anliegen und die Wirkungenunserer Erklärung. Im »Tagesspiegel« (23. 1. 1997) wies ich darauf hin, dass die soziale Demokratie zerfällt, wenn der Besitz mehr zählt als die menschliche Würde. Am 12. 6. 1998 warnte ich davor, die PDS zu verketzern und inhaltliche Abgrenzung mit prinzipieller Ausgrenzung zu verwechseln. Auf dem Alexanderplatz sprach ich am 20. Juni 1998 vor etwa 20 000 Menschen auf der Demonstration unter dem Motto »Eine andere Politik ist möglich«. Ich erinnerte an den Herbst 1989, an Aufbruchsstimmung, Erwartung und Zuversicht; daran, dass Grenzen überschritten, Repressionen und Unfreiheiten aufgehoben wurden. Diesen Aufbruch in die freiheitliche Demokratie sah ich gefährdet, weil es an aktiven Demokraten mangelt und weil der innere soziale Frieden gefährdet ist. Wir sollten »uns nicht neuen Zwängen beugen. Haben wir damals den Aufbruch in eine freie Gesellschaft mündiger Bürger begonnen, so brauchen wir heute den Aufbruch in eine gerechtere Gesellschaft solidarischer Bürger.« Der Alex »ist ein Ort der Ausrufung von Demokratie geworden; also für ersehnte Freiheit. Dieser Ort soll jetzt ein Ort der Ausrufung von mehr Gerechtigkeit sein.« Im Geiste der Erfurter Erklärung forderte ich den »Wiedergewinn von Politik« und die Beschränkung der Übermacht des Marktes.
Bis heute gibt es eine Kommunismusphobie, in der jede kleine radikale Plattform zu einem Flugzeugträger aufgebauscht wird. 15 Jahre nach Erfurt befinden wir uns in einer tiefen Krise, in die uns die neoliberale Weltwirtschaft gestürzt hat. Für mich gehören die Entfaltung des Einzelnen und die Stimulierung seiner Leistungsbereitschaft, individuelle Grundrechte und soziale Gerechtigkeit untrennbar zusammen. Die Naturbewahrung und die Ressourcenschonung dürfen wir nicht erst zur Aufgabe unserer Kinder und Enkel machen. Statt »nach uns die Sintflut?« muss es heißen: »Nach uns die Kinder!«
Das Konzeptionelle, das in der Erfurter Erklärung intendiert war, ist noch unerledigt. 2012 bleibt zu wünschen, dass der neue Bundespräsident sich von seinen Linksphobien befreit und dass er sein soziales Gewissen im Blick auf den inneren Frieden und auf die herrschende Weltwirtschaftsunordnung schärft.
DER POLITISCHE JOURNALISMUS ALS FORTSETZUNG DES KALTEN KRIEGES MIT ANDEREN MITTELN
Ich hätte nicht geglaubt, dass nach der wunderbaren Selbstbefreiung der Kalte Krieg in den Medien in neuer Auflage wieder beginnen würde. Am hässlichsten fand ich dabei Klaus Mertes in einem Beitrag von report München gegen Manfred Stolpe. Zuvor gab es einen aufwühlenden Bericht über das Abschlachten von Walen in einer norwegischen Bucht als bluttriefendes Ritual und dann eine tendenziöse, um nicht zu sagen: verurteilende Sendung gegen Manfred Stolpe und ein geradezu inquisitorisches Gespräch mit ihm, in dem Klaus Mertes ihm dringend riet, er könne viel zur Aufklärung beitragen, wenn er zurücktreten würde.
Im SFB-Rundfunk hatte ich kurz darauf einen äußerst heftigen Disput mit Herrn Mertes. Ich warf ihm vor, vor, dies sei ein Tribunal eines Westlers über einen Ostler gewesen. Er aber fand, dass man eine Sendung zu einem so schwierigen Komplex gar nicht fairer machen könne und Stolpe sei doch sehr mediengewandt und wirklich »ein Kaliber«.
Ich befand, der »Amtssessel« sei für Herrn Stolpe Schwerstarbeit, und es gebe wenige, die so kompetent sind und so viel Kraft haben wie er. Er habe zu den wenigen Leuten gehört, die in den letzten zwanzig Jahren die »Politik des Wandels durch Annäherung« im innen- und außenpolitischen Bereich auf eine diplomatische Weise gefördert hätten. Er habe geschicktals Vermittler zwischen Basisgruppen und Staatsführung, auch zwischen bedrängten Menschen und den Sicherheitsorganen gewirkt, immer zugunsten Ersterer, manchmal nur kleine Erleichterungen ermöglichend. Er sei auch wichtiger Gesprächspartner für westliche Politiker gewesen.
Mertes entgegnete, er wolle doch nur erörtern und besser verstehen, welchen Anpassungszwängen und Notwendigkeiten Verantwortungsträger in einer totalitären Diktatur unterliegen, um möglicherweise
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