Klar sehen und doch hoffen
»Obrigkeit ändern und Obrigkeit bessern sind zwei Dinge, soweit voneinander … wie Himmel und Erde. Wenn’s dann mag geschehen; Bessern ist mißlich und gefährlich. … Der tolle Pöbel fragt nicht viel, wie es besser werde, sondern, daß es nur anders werde. Wenn’s dann ärger wird, so will er abermals etwas anderes haben. So kriegt er dann Hummeln für Fliegen und zuletzt Hornissen für Hummeln …«
Die Demokratie ist anspruchsvoll und ein hohes Gut. Der obrigkeitsgehorsame Luther wusste noch nichts davon. Aber die menschlichen Eigenheiten und Schwächen kannte er sehr wohl. Er kannte sich.
EIGENTUM VERPFLICHTET – DIE ERFURTER ERKLÄRUNG
»Bis hierher und nicht weiter« lautete der Titel der »Erfurter Erklärung«, die am 9. Januar 1997 zeitgleich in Berlin und Erfurt vorgestellt wurde. Die Tagesschau berichtete darüber. Ich gehörte neben Heino Falcke, Günter Grass, Horst-Eberhard Richter und Edelbert Richter, Walter Jens, Daniela Dahn, Stefan Heym, Dorothee Sölle, Rudolf Hickel u. a. zu den Erstunterzeichnern. Der erste Satz machte unser wesentliches Anliegen deutlich: »Die regierende Politik in unserem formal vereinten Land ist in einem Zustand von gnadenloser Ungerechtigkeit, Sozialverschleiß und fehlenden Perspektiven versunken.« Neben einigen konkreten Vorschlägen – etwa zur Steuerpolitik – forderten wir grundsätzlich die Rückkehr zu den Werten einer sozialen Demokratie mit der Bindung an ein soziales Europa, die Beendigung der massiven Umverteilungen von unten nach oben, das Ende des Abbaus des Sozialstaates. Wir erinnerten an die im Grundgesetz verankerte Sozialpflichtigkeit des Eigentums nach Artikel 14, Abs. 2 GG,und damit auch an die Grundsätze der »Charta von Paris« (1990). Wir riefen diese Selbstverpflichtung der europäischen Staaten in Erinnerung, appellierten an die Bürgerinnen und Bürger, Schluss zu machen mit der Zuschauerdemokratie, setzten einen Impuls für eine außerparlamentarische Bewegung und forderten einen Regierungswechsel.
Im Kuratorium der Evangelischen Akademie bekam ich Ärger, weil ich über meine Unterschrift nicht vorher informiert hatte. Ich hatte als freier Staatsbürger, nicht als Amtsträger unterschrieben. Ich bekam eine Flut von Briefen; etliche bedankten sich einfach, andere schickten mir eigene Stellungnahmen zu, wieder andere polemisierten. Eine Religionspädagogin aus Konstanz, die unseren Diagnosen zustimmte, offenbarte ihre Sorge über eine um sich greifende menschenverachtende soziale Kälte im Lande. Sie amüsierte sich über Peter Hintzes »Rote-Socken-Kampagne« und merkte an, dass die DDR nur so lange Bestand gehabt hatte, weil die Ost-CDU und die anderen Blockparteien auf so haltbaren schwarzen Sohlen marschieren konnten. Ein Mann aus Erfurt schrieb: »Wie weit sind wir gekommen, wenn christlich-demokratische (ich wollte dies in Anführungszeichen fassen) Politiker, ja Pfarrer oder auch sozialdemokratische oder grüne Volksvertreter diese o. g. Erklärung mit Dreck bewerfen?!«
Einen Monat nach der Erfurter Erklärung wandte ich mich an Vera Lengsfeld, mit der ich seit den Protesten nach Tschernobyl guten Kontakt gehabt hatte, und erinnerte sie daran, dass ich bis dahin noch immer nicht nachvollziehen könne, dass sie in die CDU gegangen sei, und bat, »in aller Klarheit und Freundschaftlichkeit« uns trotz aller politischen Gegensätze nicht »in Lagern wahrzunehmen« und uns nicht den menschlichen Respekt aufzukündigen.
In den folgenden Wochen unterzeichneten mehrere Zehntausend Menschen das Manifest. Es rief neben viel Zustimmungsehr harsche Reaktionen hervor. Das bayerische Innenministerium beispielsweise stufte die Erklärung in ihren »Verfassungsschutzinformationen« als Kampagne von überwiegend »linksextremistisch« und »orthodox-kommunistisch« orientierten »Extremisten« ein, an der im Grunde einzig »bemerkenswert [sei], dass die … Initiatoren einen gesamtdeutschen Unterstützerkreis zustande gebracht« hätten. Allerdings seien zehn der Erstunterzeichner »bereits vor 1989 als zum Teil jahrzehntelange Unterstützer und Bündnispartner linksextremistischer Kampagnen bekannt«. Der Bundeskanzler sah in der Erklärung ein »Alarmsignal«. Wir seien »intellektuelle Anstifter«, die am Aufbau eines »Freund-Feind-Bildes« arbeiteten. Ich wandte mich daraufhin an ihn, um in einen sachbezogenen Dialog zu kommen. »Aber ich möchte auch alles dafür tun, dass soziale Verwerfungen nicht wieder zu einer rechtsnationalen
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