Klar sehen und doch hoffen
Pfarrern« sagte er, sie mögen zurückhaltender sein, weil sonst die Sicherheitsorgane unkontrollierbar reagieren könnten. Wer nicht beides sieht, sieht nichts.
Unvergesslich sind mir Konfliktlagen, wo Stolpe bei festgefahrenen Positionen im Berichtsausschuss der Bundessynode, der sich mit gesellschaftspolitischen Fragen beschäftigte, mit seinen Vermittlungsvorschlägen so klärend einzugreifen wusste, dass beide Seiten relativ zufrieden sein konnten und somit der Friede untereinander bewahrt blieb.
Doch den Kompromiss zwischen der Konferenz der Kirchenleitung und den Staatsorganen in Bezug auf das öffentlicheZeigen des Symbols »Schwerter zu Pflugscharen« habe ich nicht verstanden und nicht geteilt.
Darüber, dass er Gespräche mit den Stasioffizieren Wiegand und Roßberg geführt hat, besteht kein Zweifel. Die Frage ist, auf welcher Seite er zu jener Zeit gestanden hat und ob er irgendjemand verraten hat. Ich bin nach meinen menschlichen Erfahrungen ziemlich sicher, wofür er steht. Und ich vergesse nicht, wie er auf der Herbstsynode 1989, die so spannungsgeladen war, dass man es knistern hörte, an meinem Synodentisch vorbeikam, mit den Fingerkuppen ein wenig auf den Tisch klopfte und mir zuraunte: »Machen Sie man. Ich brauche Druck im Kessel.« Ich verstand. Er hatte gerade die Gründungspapiere von »Demokratie jetzt« persönlich in der Synode verteilt.
Immer noch gibt es unterschiedliche Versionen bezüglich der inhaftierten Oppositionellen im Zusammenhang mit der Rosa-Luxemburg-Demonstration vom Januar 1988. Die Inhaftierten haben – soweit ich sehen kann – dem Kompromissvorschlag zugestimmt, für ein halbes Jahr in den Westen zu gehen, mit der Versicherung, sie könnten dann wieder zurückkommen. Damit wurde verhindert, dass es zu Prozessen und einer Verurteilung mit langjährigen Haftstrafen in Bautzen kam. Auch hier hat Stolpe mitgewirkt. Und keiner von denen, die damals im Gefängnis saßen, soll mir weismachen, er sei gezwungen worden, in den Westen zu gehen. Sie haben diesen gewiss nicht unproblematischen Kompromiss Auswandern in den Westen statt DDR-Knast gewählt.
Es gab überall – auch in Wittenberg – Veranstaltungen und Mahnwachen, die möglicherweise damals schon zu größeren Demonstrationen hätten anschwellen können. Und wir, die wir »an der Basis« nichts wussten, waren auch enttäuscht, dass Bärbel Bohley und die andern Inhaftierten in den Westen gegangen waren. Die DDR-Behörden hatten wohl geglaubt,dass es all den Bürgerrechtlern, die in den Westen gingen, dort so gut gefallen würde, dass sie ohnehin nicht zurückkämen. Stolpe aber beharrte darauf, dass sie, wie verabredet, nach einem halben Jahr zurückkommen könnten. Die DDR-Behörden wollten genau davon nichts mehr wissen. Bärbel Bohley wollte zurückkommen. Manfred Stolpe fuhr mit seinem Auto nach Prag und holte sie persönlich vom Flughafen ab. Sie wurden stundenlang am Grenzübergang zwischen der ČSSR und der DDR aufgehalten. Hier konnte Stolpe einmal mit einem Eklat drohen. Und so ist Bärbel Bohley (und wenige andere) wieder in die DDR zurückgekehrt und hier wieder oppositionell aktiv geworden. Das fand ich ganz großartig. Aber was ich nicht großartig fand und finde, ist, dass Stolpe sich in allen Situationen, in denen ihm schwere Vorwürfe gemacht wurden, nicht offensiv gewehrt hat.
Warum hat er nicht gesagt, wie er sich für Bärbel Bohley eingesetzt hat. Und dies ganz persönlich? Warum wird nicht erwähnt, dass Bärbel Bohley nach ihrer Rückkehr in die DDR aus der »Schusslinie« neuer sofortiger Konflikte durch ein besonderes Westmedien-Interesse genommen wurde und sie auf Kirchenkosten und -vermittlung ihre »Akklimatisierung« in der DDR in einem kirchlichen Freizeitheim auf der Insel Hiddensee etwas abgeschirmt gestalten konnte?
Kein Wort von denen, denen Stolpe spürbar geholfen hat. Kein Wort der Klärung. Kein Wort des Dankes. Ich fand und finde das einfach schäbig.
Stolpe hat mehrere Jahre lang ein öffentliches Sperrfeuer gegen seine Person erlebt, aber in der Bevölkerung des Ostens mehrheitlich Sympathie und großen Respekt geerntet. Die Untersuchungen der Kirche hatten ergeben, dass für ein Disziplinarverfahren kein Anlass besteht. Aber 2011 ging die Hatz noch einmal los.
Auf einer Hochzeit im Juni 2011 traf ich das Ehepaar Stolpe.
Manfred Stolpe, Propst Treu und Richard von Weizsäcker in Wittenberg, 1992
Beide gezeichnet durch Krebserkrankungen. Frau Stolpe ging die erneute
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