Klar sehen und doch hoffen
Widerparts, im DDR-Regime eine undenkbare Konstellation.
Nachdem meine Tochter im Juni 1989 ihr Abitur in der Tasche hatte, fuhr ich mit ihr nach Warschau. Wir versuchten, Kontakt zur Solidarność und zu anderen Oppositionsgruppen aufzunehmen. Freudig erregt, in hinwendungsvoller Neugier, im schönen Selbstbewusstsein der Gleichgesinnung. Aber was geschah? Wir wurden ziemlich kühl, um nicht zu sagen schroff abgewiesen – weil wir aus der DDR und nicht aus der Bundesrepublik gekommen waren. (Der Stasibericht über diese Reise vermerkt lediglich: »In der VR Polen hat sich›Johannes‹ offensichtlich mit Exponenten der PUT beraten, dieser Fakt könnte in den zukünftigen Aktivitäten von Bedeutung sein. Deutlich wird eine zunehmende Verunsicherung von ›Johannes‹ und ›…‹ in Bezug auf von ihnen vermutete technische Kontrollmaßnahmen durch das MfS.«)
Uns wurde in Warschau recht deutlich gemacht: Die Polen hielten nicht viel von der DDR, sie blickten, wenn sie nach Deutschland schauten, über uns Ostdeutsche hinweg. Zu tief hatte sie verletzt, was seit Anfang der siebziger Jahre an antipolnischen Ressentiments, auch an regelrechter Polenverachtung zu ihnen gedrungen war. Honecker hatte vom »Sozialismus in den Farben der DDR« gesprochen, und nicht nur hinter vorgehaltener Funktionärshand war die offizielle politische Formel ins ostdeutsche Arroganzvokabular übersetzt worden, in Witze und Stammtischphilosophien über Polen und dessen Bevölkerung. Dem »proletarischen Internationalismus« fiel verräterisch oft die geschminkte Maske vom Gesicht. Die Polen hatten sich das Gesicht quasi gemerkt und sahen auch in uns jene, die sie lieber mieden, wenn es um Begegnung, gar Bündnis ging. Seltsam, wie man plötzlich für genau das büßen muss, was man stets bekämpfte und wofür man sich immer geschämt hatte.
Wir bekamen die erwünschten Kontakte jedenfalls nicht. Ich schwankte zwischen Verständnis und Unmut, zudem verwirrte mich, dass sich plötzlich Vertreter des KPN (Konföderation des unabhängigen Polen) für uns interessierten. Die Gruppe verstand sich als Hüterin des Erbes von Józef Piłsudski und war eher national konservativ, antisemitisch und antirussisch orientiert. Ich erschrak, lavierte höflich und suchte nach Möglichkeiten, dem unliebsamen Kontakt auszuweichen. Das war ein erster Eindruck von dem, was sich Monate später auch in der DDR ereignen sollte: Am Start in die Demokratie würden unterschiedlichste, auch miteinanderunvereinbare politische Gruppierungen stehen; man würde sich wundern, woher die mit einem Male alle kamen; Besorgnisse über unwillkommene Machtkonstellationen würden sich einschleichen – und einmal mehr würde sich zeigen, dass die Ablehnung und Abschaffung eines alten Systems ein zwar kräftiger, aber nur kurzfristiger Bündniskitt ist, die Bestimmung politischer Ziele jedoch, das gemeinsame Vorgehen gar ein quälend schwieriger Prozess. Unweigerlich verbunden mit Streit, Unversöhnlichkeit, Abspaltung, Trennung, Gegnerschaft.
Meine Tochter und ich erlebten in Warschau unmittelbar mit, wie sich ein 40 Jahre kommunistisch beherrschtes Parlament in ein demokratisches Hohes Haus zu verwandeln begann. Solidarność hatte Anfang Juni einen erdrutschartigen Sieg errungen. Uns faszinierte, wie kulturvoll der Übergang in die zensurfreie Streitkultur verlief. Das Vorbild der Polen: Sie hatten als geniale politische Innovation am 6. Februar 89 den »Runden Tisch« in die Welt gestellt, daran Platz genommen – damals ahnte ich noch nicht, dass dieses grandiose Möbelstück für uns in der DDR schon ein Vierteljahr später ebenfalls große politische Bedeutung für den Übergang in die Demokratie erlangen würde.
Was legt in uns Spuren? Welche Wahrnehmungen und Eindrücke setzen Lebensentscheidungen in Gang? Mehrfach hatte unsere Familie das Nachbarland besucht, wir genossen die Schönheit des Landes, wir standen ergriffen in den Gedenkstätten, die von den Schrecknissen unter deutscher Besatzung erzählen. Polen wuchs uns ans Herz, und meine Tochter Uta, die mich 1989 nach Warschau begleitet hatte, entschloss sich zu einem Studium der Polonistik. Ein Semester verbrachte sie in Krakow, um dann später über polnische Theateregisseure wie Krystian Lupa und Tadeusz Kantor zu forschen und zu schreiben. Über Lupa promovierte sie. So istmir Polen gleichsam auf sehr direkte Weise familiärer Stoff geworden; Geist und Gemüt sind mit dem Nachbarland eng verbunden, das Werk
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