Klar sehen und doch hoffen
einander Mut machen. Und doch die Fallen des Übermuts kennen und beachten. Schweigen zur falschen Zeit kann zerstören, es vergrößert nur die Probleme, die just durch Schweigen gemindert werden sollen. Es gibt freilich auch Zeiten, da sollte man schweigen, aber damals, auf jenem Schiff, war es bereits höchste Zeit zu reden, öffentlich und laut, und für Sekunden schien es mir, wir befänden uns nicht bloß auf einer Fähre des gewöhnlichen Seeverkehrs, sondern auf Fahrt zu wahrlich neuen Ufern offener, öffentlicher Verständigung. Aber da tönte auch schon die Sirene. Wir waren zurück in der DDR-Realität: auf dem Fest-Land.
Welch ein Wechsel: Im Mai 1993 und 1994 lud der Bertelsmann-Buchclub zu Ost-Westlichen Hiddenseeer Gesprächen – »Kulturnation Deutschland« – ein, um die Verständigung zu befördern. Eberhard Reimann und Theo Schäfer hatten dies ebenso initiiert wie das Symposium im Juni 1990 im Potsdamer Cecilienhof und »Leipzig liest« als eine wunderbare kulturelle Brücke. Publizisten, Dichter, Journalisten, Wissenschaftler aus Ost und West trugen ihre Positionen vor und diskutierten heftig, aber fair – und honorarfrei. Zweimal ganze drei Tage, Auge in Auge unsere »Geteilte Vergangenheit – gemeinsame Zukunft« suchend. Mir ist u. a. in Erinnerung geblieben, wie Hellmuth Karasek mit Friedrich Dieckmann und der DDR-Zeit – theatralisch auf und ab laufend – abrechnete. Meine 21-jährige Tochter Uta, als eine der Vertreterinnen der jungen Generation dabei, nahm allen Mut zusammen und gabzu Protokoll: »Ich habe Herrn Dieckmann ganz anders verstanden als Sie, Herr Karasek. Ich komme aus dem Osten. Ich weiß nicht, ob das daran liegt, oder liegt es an der Sprache oder am Erfahrungshorizont?« Karasek war einen Moment lang konsterniert. Die Gesprächsprotokolle zeigen nach nunmehr 18 Jahren, dass die Gräben noch lange nicht zugeschüttet sind.
Und Hiddensee ist eine gesamtdeutsch überlaufene, immer noch schöne (Urlaubs-)Insel, besonders im Herbst, wenn es stiller wird.
»DIE GRENZE DER FREIHEIT BESTIMMEN DIE ANRAINER« (LEC). GUTE NACHBARSCHAFT MIT POLEN
Nachbarschaft ist Fügung, meist so wenig wählbar wie Verwandtschaft. Aber eben deshalb ist Nachbarschaft ein prägender Prüfstein für die Kraft der eigenen humanen Ausstrahlung, für den friedlichen Charakter der atmosphärischen Schwingungen, die hinüberwirken zum jeweils anderen. Die Nachbarschaft zwischen Deutschen und Polen hatte schwere historische Lasten zu ertragen. Aus dem Gemenge von kriegerischen Angriffen, politischen Anmaßungen, unrechtmäßigen Ansprüchen, fatal gezüchteten Aversionen hat sich aus deutscher Schuld heraus mühsam und mählich, über Nachkriegsjahrzehnte hinweg, ein geschichtlich neues Verhältnis zwischen den Nachbarn an Oder und Neiße entwickelt. Friedrich Dieckmann hat geschrieben, mit der frühen Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze habe die DDR ihre historisch größte Leistung vollbracht und ihre Existenz sei allein schon gerechtfertigt gewesen wegen dieses einen Umstandes: Sie hat den Westen daran gewöhnt, dass es besagte Grenze gibt und dass sie eine völkerrechtliche Errungenschaft ist. Inzwischeneine Selbstverständlichkeit, mag man sagen – freilich weisen Töne aus dem Bund der Vertriebenen immer wieder darauf hin, dass in Fragen der Geschichtsbilder und daraus resultierender politischer Handlungen niemals etwas als selbstverständlich betrachtet werden sollte, also als etwas, das keiner Mühe, keiner sorgsamen Pflege mehr bedarf. Die Brücken über Oder und Neiße führen immer wieder auch in die Vergangenheit, ohne deren fortwährendes Bedenken und Befragen keine gesicherte gemeinsame Zukunft möglich ist. An Flüssen stehen, schreibt der Dichter Peter Handke, das wird Frieden sein. Alle Stille, alle Sanftheit, alle Furchtlosigkeit und Beruhigtheit, die von diesem Bild ausgeht, sie ist Arbeit. Auch Brüderlichkeit ist Arbeit.
Freilich: Brüderlichkeit lässt sich nicht institutionalisieren. Man kann Menschen nicht zu Zuneigung verpflichten. Doch bedarf es der Institutionen, der Bündnisse, um sich gerechtfertigt zu fühlen in einem Sinn, der das eigene Ich weitet. Für uns in der DDR war Solidarność solch eine Institution, ein Kraftwerk des Zuspruchs, des praktischen Widerstandsgeistes. Ich sah nach Polen plötzlich sehnsuchtsvoller, als ich je nach Westen geblickt hatte. Über Jahre hinweg blieb die polnische Gewerkschaft der Werftarbeiter das Vorbild einer geschlossenen Kraft des
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