Klar sehen und doch hoffen
polnischer Denker hat mich nachhaltig beeinflusst. Was mich früh faszinierte, war deren Kompromisslosigkeit, sich den Erfahrungen mit Stalinismus und Dogma ehrlich zu stellen, aus dem Irrtum der eigenen Parteilichkeit Konsequenzen zu ziehen und sich ab einem bestimmten Punkt nicht mehr mit den Beschwichtigungen eines falschen Bewusstseins durch die Zeit zu lügen.
Leszek Kołakowski und sein Buch »Der Mensch ohne Alternative. Von der Möglichkeit und Unmöglichkeit, Marxist zu sein« haben mich lange beschäftigt. Mein Freund Konrad Well schmuggelte es 1965 über die Grenze, es war in meinem dritten Studienjahr. Er kam mit seinem VW Käfer auf der Autobahn durch die DDR, wir verabredeten uns auf dem »ersten Parkplatz nach dem Berliner Ring«. Ein illegaler Treff wie in einem billigen Agentenfilm. Klischeehafter konnte die Konspiration nicht sein, aber vielleicht wehren wir uns mit dem Stempel des Klischees einfach nur gegen die Trivialität mancher Wahrheiten. In gewisser Weise agierte mein Freund als Fluchthelfer: Denn auch jenes Buch, das er mitbrachte, half mir bei der permanenten Flucht aus der festgezurrten Geisteswelt dieser DDR.
Noch immer sehe ich den Parkplatz vor mir. Der Volkswagen hielt. Ich war schon da, stieg von meinem Motorrad ab, ging in den Wald. Mein Freund aus Frankfurt am Main kam mir nach. In bemühter Unauffälligkeit, einen Beutel in der Hand. Er kam nicht, er schlich. In solchen Situationen denkst du plötzlich, selbst die kleinste Geste oder Bewegung – bemüht unauffällig oder beiläufig – ziehe just durch das Bemühen alle Blicke der Welt auf dich. Du bist der Enttarnteste, der sich denken lässt. Uns gegenüber, auf der anderen Seite der Autobahn, parkte gerade eine Autokolonne der NVA.Auch das noch, es gehört natürlich zum Klischee. Als habe ein Dramaturg gegähnt und gemeint: Da muss noch etwas Spannung hinein!
In Kołakowskis Essays begegnete ich erstmalig einem Marxisten, der als Philosoph eine eigene Denkrichtung vertrat. Was völlig fehlte, war diese routinierte linke Anmaßung, sich nur als Repräsentant der objektiven, unbefragbaren Wahrheit zu gerieren, eine Haltung, die zwischen Arroganz und knechtischer Bescheidenheit fragwürdige Allgemeinplätze verkündet. In seinem Aufsatz »Der Priester und der Narr. Das theologische Erbe in der heutigen Philosophie« schrieb Kołakowski, die Probleme der Theologie seien nichts anderes als eine ungeschickte Formulierung der wesentlichen Rätsel, vor denen wir als Menschen gemeinsam stehen. Etwa, ob die Geschichte eine ewige Wiederkehr des Gleichen oder ein Fortschritt sei. Am Schluss heißt es: »Das Priestertum ist nicht nur ein bestimmtes geistiges Verhältnis zur Welt, sondern eine bestimmte Form der Existenz der Welt selbst, nämlich das Fortdauern der praktischen Wirklichkeit, die schon nicht mehr existiert. Umgekehrt kommt in der Gestalt des Narren das zur Geltung, was nur eine Möglichkeit ist und was in ihm wirklich wird, ohne dass es faktisch existiert. Denn unser Denken über die Wirklichkeit ist ebenfalls ein Teil der Wirklichkeit – und kein schlechterer als die anderen Teile. Die Priester brauchen die Narren und die Narren die Priester.« Was Kołakowski anbietet und was uns bis 1989 verwehrt wurde, ist nichts anderes als der Erkenntnis fördernde Dialog. Er formuliert die »Vision einer Welt, in der die am schwersten zu vereinbarenden Elemente menschlichen Handelns miteinander verbunden sind, kurz, es geht uns um Güte ohne Nachsicht, Mut ohne Fanatismus, Intelligenz ohne Verzweiflung und Hoffnung ohne Verblendung. Alle anderen Früchte des philosophischen Denkens sind unwichtig.«
Kołakowski musste Polen 1968 verlassen. Ich hörte wieder von ihm, als er 1977 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekam. In seiner Dankrede »Erziehung zum Hass, Erziehung zur Würde« entwirft er ein friedliches Mitteleuropa – trotz der Masse des angehäuften Hasses zwischen unseren Völkern, den es abzutragen gelte. Er plädiert für einen »dominationsfreien, kulturellen Bereich«, der für das Geschick Europas entscheidend sein könne. Ich habe Kołakowski stets als einen Wegbereiter einer friedlichen Selbstbefreiung aus sowjetischer Umklammerung gelesen und verstanden.
Auch der polnische Erzähler, Lyriker und Dramatiker Tadeusz Różewicz machte mich betroffen. Seine Bücher wurden in der DDR publiziert, seine Stücke standen auf den Spielplänen zahlreicher Theater. Er drückte auf schmerzhaft satirische, aber
Weitere Kostenlose Bücher