Klar sehen und doch hoffen
Filmbericht zeigte die Keller, wie sie vor den Vorhang des ehrwürdigen Deutschen Theaters trat, sie hatte eine Zeitung in der Hand und las einen Text aus der »Berliner Zeitung«, er stammte von mir und mahnte zu einem nicht denunziatorischen und einem nichts verleugnenden Umgang miteinander wie mit der DDR-Geschichte. Keller sagte noch einen Satz, der ihre eigene Zustimmung zu meinenWorten in die gewohnt klare, preußisch brillante und souverän wirkungsbewusste Sprache brachte, und sie verschwand wieder. Dann kam Walter Janka und las aus seinem beeindruckenden Buch »Schwierigkeiten mit der Wahrheit«.
Ich traf diesen von Krankheit und Erfahrung schon schwer gezeichneten Mann auf der Geburtstagsfeier für Willy Brandt am 18. Dezember 1989. Wenige Worte, in gegenseitig spürbarer Sympathie. Er erlebte das Aufbrechen der verkrusteten Strukturen wohl mit der erschütternden Ahnung, dass für ihn selbst alles zu spät gekommen war. Das Leben ist ungerecht, es setzt seine aufbauenden, befreienden Zäsuren ohne Rücksicht auf den Schwund der uns gegebenen Zeit. Aber es lag Beglückung in Jankas Zügen, Hohn war ihm fremd, Hass auf die SED-Bonzen ebenso – er stand gleichsam aufatmend in einer Niederlage, die auch seine Niederlage blieb. Weil dieser fegende Herbst 1989 für ihn nicht nur das Abtreten einer rigide anmaßenden Partei bedeutete, deren Opfer er, ein aufrechter Kommunist, geworden war, sondern weil diese Niederlage den Sinn beschädigte und ins Wanken brachte, für den er gelebt und gelitten hatte. Nach Walter Jankas Tod kam seine Witwe öfter nach Wittenberg in die Akademie, wach, kritisch, zugewandt. Es gab viele ehemalige SED-Mitglieder, die wie Walter Janka aufrecht, unter Mühen des kritischen Selbstgerichts, willens, für neue, demokratische Verhältnisse zu wirken, in die Wendezeit gingen. Warum die Sozialdemokratie in jener Phase des Auseinanderstiebens und der Neufindung politischer Konstellationen ihnen die kalte Schulter zeigte, sie nicht einband ins Neue, ist mir bis heute unverständlich. Eine Entscheidung, in der ein tiefer Schmerz der Erfahrung seinen Befehl gegeben hatte; ein Fehler, der die Sozialdemokraten eine Menge Zukunft kosten sollte.
Inge Keller besticht noch immer in ihrer freilich seltener gewordenen Bühnenpräsenz. Vor allem ihre Lesungen, nachwie vor am Deutschen Theater, sind Feste einer hohen Kultur in maßstablos flatternder Zeit. Meiner Bewunderung bleibt eine leise Trauer eingeschrieben. Wir hatten damals über den Tod reden wollen, sprachen übers Leben, und einmal mehr hatte sich das als ärgste Gelegenheit erwiesen, aneinander vorbeizureden.
Hiddensee blieb mein Sehnsuchtsort. Aber zu selten hatte ich Gelegenheit, auf die Insel zu fahren. Immerhin: So bleiben Sehnsüchte wach. Ich versuchte auch andere für das faszinierend abseits gelegene Eiland zu gewinnen, fuhr mit der Wittenberger Vikarsgruppe nach Kloster, einem bestechend schönen Ort für Besinnung und Konzentration in unmittelbarer Nähe zu einem Gefühl der Abwesenheit von Enge und Eintönigkeit.
Als ich 1987 mit einer Vikarsgruppe aus dem Predigerseminar für eine Woche auf die Insel Hiddensee zur Klausur fuhr, traf ich auf der Rückfahrt mit der Fähre nach Schaprode Hans Otto Bräutigam, den Ständigen Vertreter der Bundesrepublik bei der DDR, mit seiner Frau. Wir kannten uns vom Kirchentag in Wittenberg und kamen sofort ins Gespräch. Wir redeten offen, mussten allerdings laut sprechen, weil der Dieselmotor der Fähre erheblich dröhnte. Die Gespräche auf der Fähre verstummten, die Leute hörten uns zu. Bräutigam merkte das, er fragte leise, zu mir herübergebeugt, ob wir überhaupt so laut reden dürften, ob es nicht besser sei, die Lautstärke zu zügeln. Ich entgegnete, wir müssten unbedingt laut reden. Denn es sei doch nicht die Frage, ob wir etwas dürften, sondern ob wir uns die Freiheit für etwas, das uns wichtig ist, einfach nähmen.
Sie ist in meinem Gedächtnis, die plötzliche Stille jenes Augenblicks, als sich der Diplomat bei mir vergewissert hatte aus einer Mischung aus Vorsicht und Fürsorge, und der befreiende Moment, in einem sicheren Empfinden von Aufgehobenseineinfach weiterzureden – was »meines Herzens Meinung sei«. Ohne Furcht vor falschen Zuhörern, ohne Beklemmung, ohne zermürbende Taktik, was angebracht sei und was nicht. Wer nicht ständig Angst vor der Angst hat, dem wächst aus zugefügtem Kleinmut kleiner Mut zu – mit Wachstumspotentialen. Schöne Maxime: Immer
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