Klar sehen und doch hoffen
keineswegs zynische Weise aus, wie schwer es ist, bei einem »Ausflug ins Museum« genau das angemessen zur Sprache zu bringen, was in KZs und in den Folterkellern der SS angerichtet worden war. Er misstraute den offiziös rituellen Gedenkmustern; mit aggressiver Schärfe, scheinbar ungerührt und betont verstörend, stieß er vor in die Bewusstseinsgegenden, wo der unverstellte Antisemitismus, die freche Unbelehrtheit und eine verheerende Gleichgültigkeit ihr Werk tun. Er schrieb, als habe ihm Beckett den Auftrag erteilt. Endspiele. In seinen Gedichten ging mir herznah, wie hinter grotesker Überspitzung eine aufwühlende Trauer aufsteigt. In seinem Gedicht »Denkmal aus der Besatzungszeit« heißt es: »unsere Denkmäler/haben die Form von Rauch/Sie steigen bis in den Himmel.«
Wenn man von solcher Poesie getroffen wird, wächst Zorn über die gefährliche Unbedenklichkeit, mit der politische Kräfte in der Bundesrepublik noch immer an schmerzhaftesten Punkten eine Differenzierung betreiben, die gefährliche Folgen haben kann – und zwar im Verständnis nachkommenderGenerationen für die Dialektik von Ursache und Wirkung. Natürlich war die Vertreibung der Deutschen aus Schlesien, Hinterpommern und Ostpreußen eine Tragödie, ein Unrecht, aber dem war doch ein Raub- und Vernichtungskrieg vorausgegangen! Ohne Krieg keine Vertreibung. Das Beharren auf diese Kausalität bedeutet keine Missachtung der Vertriebenen und ihrer Leiden, aber hinter diesem Beharren steht sehr wohl die Sorge, eine historische Wahrheit könne verleugnet werden.
Deshalb verfassten wir 2008 im Willy-Brandt-Kreis gegen das geplante »Zentrum für Vertreibung« einen Aufruf für ein »Zentrum gegen Krieg«. Darin heißt es: »Vertreibung ist eine von vielen entsetzlichen Kriegsfolgen. Genauso gut könnte man ein Zentrum gegen Gebietsannexion befürworten, eins gegen Geringschätzung des Lebens von Soldaten, gegen Massaker an Zivilisten, gegen Bombenopfer und Ruinen, eins gegen Zwangsarbeit und Gefangenenlager, gegen Hunger und Typhus, ein Zentrum gegen Vergewaltigung, gegen Verrohung der Sitten, gegen ethnische Säuberung, gegen Vergeltung und Strafe der Sieger. All das wäre natürlich unrealistisch, um nicht zu sagen absurd. Wir bräuchten ein Zentrum gegen den Krieg, das den Jüngeren veranschaulicht, weshalb Krieg geächtet und künftig zu vermeiden wäre. Jedes von den eben erwähnten Kriegsleiden müsste entsprechend Raum bekommen. Dazu müsste auch all das zur Sprache kommen, was nicht entschädigungsrelevant ist.«
Wir fanden für diesen Aufruf etwa 1 200 Unterzeichner. Bei einem Besuch des Willy-Brandt-Kreises im Willy-Brandt-Zentrum in Wrocław spürten wir, wie heiß umstritten, wie belastet von Feindseligkeiten diese Debatte um Vertreibung auch in Polen ist. Es gelang uns nicht, ein öffentliches Gespräch über das Thema zu führen – wir blieben bei einer anberaumten Veranstaltung fast unter uns. Unsere Gastgeberfürchteten, Rechtspopulisten wie Altkommunisten könnten das Gespräch unterwandern, sprengen. Plötzlich schreckten unsere polnischen Freunde, sonst beeindruckend unerschrocken, vor einer offenen Diskussion zurück. Es war der blanke Nerv, die offene Wunde zu spüren.
»Wer zur Quelle will, muss gegen den Strom schwimmen.« Kein polnisches Sprichwort, aber es kommt mir in den Sinn, wenn ich an Polen denke. Geradezu trotzig planten wir Dozenten des Predigerseminars im Januar 1990 mit der Vikarsgruppe eine Reise in den Osten. Obwohl alle, die sich in Bewegung setzten konnten, seit dem 9. November 1989 als harmonischer Schwarm gen Westen strömten, organisierten wir eine Studienfahrt nach Wrocław. Das fand erwartungsgemäß keinen ungeteilten Beifall. Als würden wir uns mit dem Weg in die Gegenrichtung des allgemeinen Zeitstroms einer wichtigen Eingemeindungspflicht entziehen. Es wurde dennoch für alle, die mitfuhren, ein eindrücklicher Besuch. Wir erlebten nahezu beschämt, was Armut bedeutet und dass sie kein Hemmnis für überbordende Gastfreundschaft ist. Wir bewunderten den Wiederaufbau der »Festung Breslau« und akzeptierten selbstverständlich, dass es sich um ein »Breslau« in der Stadt Wrocław handelt. Wir besuchten den heruntergekommenen Ort Kryżowa (Kreisau), schauten hinter die Fassaden der eilig getünchten Scheunen des ehemaligen Gutes der von Moltkes – überall im Ostblock dieselbe Tünche und überall die gleiche, nur notdürftig verhüllte Lüge über das Ausmaß des Verfalls. Hier in Kreisau
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