Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
Vom Netzwerk:
war Kanzler Kohl kurz zuvor mit dem polnischen Ministerpräsidenten Mazowieczki zusammengetroffen und hatte bei großer Medienpräsenz eine Messe auf dem Gutshof mitgefeiert. Ursprünglich sollte die Versöhnungsmesse auf dem St. Annaberg stattfinden. Da der Wallfahrtsort polnischer Katholiken zugleich ein Pilgerziel deutscher und polnischerPatrioten ist, gab es Proteste, und der Plan wurde fallengelassen. Auch aus diesem Grund waren wohl mehrere Gesprächspartner, u. a. Professoren der Wrocławer Universität, über die Zukunft des deutsch-polnischen Verhältnisses nach der Vereinigung besorgt.
    Im »Gebet um Erneuerung« berichteten wir am 16. Januar 1990 in Wittenberg von unseren frischen Polen-Erfahrungen: Die Rede von der Wiedervereinigung wecke Sorge, »sogar Angst, ganz persönliche Angst, solange die deutschpolnische Grenze nicht von allen Deutschen als endgültig anerkannt wird. Machen wir uns klar: Eine Grenzrevision in Europa würde viele andere Grenzrevisionen nach sich ziehen und wieder Menschen aus ihrer Heimat vertreiben. Ein katholischer Professor der Breslauer Universität sprach von drei Dingen, die die Ängste in Polen verursacht haben. Einmal die Restriktionen gegenüber Polen in der DDR und die Behandlung der Polen durch uns Deutsche in der DDR. Zweitens der Zehn-Punkte-Plan des Bundeskanzlers, der völlig ohne die polnische Grenze gedacht ist. Und drittens die lauten Rufe von ›Deutschland, einig Vaterland‹ auf den Großdemonstrationen in Leipzig und überall in Sachsen. Was wird werden, wenn die Deutschen wieder so stark sind? Müssen wir wieder zittern?«
    Ich erzählte von unserem Besuch in Kreisau, einem malerisch gelegenen Dorf am Fuße des Eulengebirges, wo sich in den vierziger Jahren der Kreisauer Kreis unter Leitung von Helmuth James Graf von Moltke getroffen hatte. Diese Widerstandsgruppe wollte ein demokratisches Deutschland aufbauen. Fast alle wurden nach dem gescheiterten Putsch vom 20. Juli 1944 hingerichtet. »Heute wollen Polen dort ein internationales Versöhnungszentrum bauen – aus dem Nichts – und wollen uns Deutsche zum Mitaufbau dieses Zentrums einladen. Eine Stätte zur Erinnerung an Zivilcourage, anChristen, die das Unrecht des Völkermordes nicht ertragen wollten und ihr Leben dafür einsetzten. Eine Stätte der Erinnerung des Kampfes gegen jede Diktatur, ein Ort der deutschpolnischen, ja der europäischen Verständigung.« (Das ist inzwischen in beeindruckender Weise gelungen. Die F. C. Flickstiftung gegen Fremdenfeindlichkeit und für Toleranz, in der ich seit zehn Jahren mitwirke, fördert dort regelmäßig Projekte der Völkerverständigung, insbesondere mit Kindern und Jugendlichen.)
    Der emphatische Reisende, der seine Erlebnisse später schildert, spürt quälend die Kluft zwischen der Kraft der Eindrücke und der unweigerlichen Mattheit der Wiedergabe. Die verräterisch zurückhaltende Reaktion der vielen Besucher auf unseren Bericht erschütterte mich geradezu. Es regte sich sogar unverhüllter Widerspruch. Es lag wie dicke Luft über allem, was wir erzählten. Die Ostdeutschen waren ganz mit sich selbst beschäftigt und hatten in ihrer Euphorie, in die offene Welt hineingerissen worden zu sein, überhaupt kein Verständnis für ernst und sorgenvoll blickende europäische Nachbarn. Man tat regelrecht beleidigt, dass aus historischer Reminiszenz Probleme mit dem sich anbahnenden größeren Deutschland thematisiert wurden. Ich fühlte mich unwohl, auch unverstanden. Man möchte ja nicht unbedingt Stimmungsverderber sein. Ich kam mir, unser deutsches Wunder in den Kontext auch polnischer Befürchtungen stellend, wie ein Trauerredner vor, der mitten im Kölner Karneval um Gehör bittet. Fehlplatziert also?
    Die untergründige Reserve gegenüber den Polen, die ich beim Schildern unserer Reise spürte, gab mir Recht, auf dem deutsch-polnischen Verhältnis zu insistieren. Ich erinnerte mich an die Jahre 1980/81, als die SED-Propaganda bereits erwähnte antipolnische Ressentiments geschickt gegen Solidarność zu nutzen versuchte. So berichtete das ND vom4. Januar 1981 über den Besuch Honeckers in Japan, wo er, zu Polen befragt, sagte, dass »kein Land, will es Erfolg haben, ohne Arbeit leben« könne. In diesem sehr seltenen Falle konnte die SED davon ausgehen, dass sie das dumpfe Empfinden der ostdeutschen Mehrheit traf – das ND als Zentralorgan des DDR-spezifischen roten Chauvinismus. Dem entsprach, wie die Zeitung die polnische Oppositionsbewegung

Weitere Kostenlose Bücher