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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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Feuchtwanger. Unser Vater erzählte uns viel und las uns vor. Große Literatur, von Storm bis Kleist, von Heine bis Tucholsky.
    Schillers Dramen verschlang ich in den mir vom Vater geschenkten Reclambändchen. Das Pathos der Freiheit wehte mich in »Don Carlos« an, die Niederungen der Politik fand ich bei »Fiesko«. Zur Konfirmation 1958 schenkte mir eine Tante aus dem Westen Büchmanns »Geflügelte Worte«. Diese Sammlung lenkte mich hin auf den Herkunftsort weiser Sprüche wie etwa den Satz des Faust in »Faust II«: »Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muss.« Aber ich musste eben auch jedes Jahr Pflaumenmus rühren, Stunden um Stunden, und regelmäßig den Schafstall ausmisten.
    In den liturgisch ziemlich festgelegten Gottesdiensten meines Vaters blieb mir vieles sehr fremd, einige Kernsätze haben sich jedoch bei mir regelrecht eingenistet, z. B.: »Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott«. (Micha 6, 8)
    Ich lebte in einem Land mit einer »doppelten Wirklichkeit«, die Kluft zwischen privat und offiziell war unüberbrückbar. Ich erlitt viel angstschlaue Anpassung und hörte selten ein offenes Wort. Im Schülerheim von 1958 bis 1960 fühlte ich mich wie ein Fremdkörper und musste immer auf der Hut sein. Da sprach mich direkt an, was Jesus in seiner Aussendungsrede den Seinen mit auf den Weg gab: »Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe. Darum seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben.« (Matthäus 10, 16)
    Noch mehr war es mir auf der Schwelle zum Erwachsenwerden gesagt, ganz mir gesagt: »Fürchtet euch nicht. Fürchtet euch nicht.« Aber so einfach war das nicht. Ich fürchtete mich schon. Ich musste mich täglich mit meinen Ängsten und mit meiner Urangst anfreunden. Bis heute.
FAMILIENBANDE UND MAUERBAU
    Um es vorweg zu sagen: Wir hatten Westverwandtschaft. Ich kann mir kaum denken, wie unsere neunköpfige Familie bei dem geringen Gehalt meines Vaters ohne Westhilfe durchgekommen wäre. Oft half ein lang erwartetes Paket von Tante Beate aus Hamburg, die leere Haushaltskasse auszugleichen. Meine Eltern hatten ja keinen Pfennig gespart, sparen können. Ich hatte in der Kindheit wie alle meine sechs Geschwister fast nur angetragene Westklamotten an, die immer an die jüngeren Geschwister weitergegeben wurden. Bohnenkaffee hätten sich meine Eltern nie leisten können.
    Westpakete halfen auch der DDR-Mangelwirtschaft, knappe Devisen zu sparen. Wenn man nur einmal zusammenrechnet, wie viele Tonnen Kaffee in den Osten verschickt worden sind. Und jedes Westpaket war ein Schlag ins Gesichteiner Gesellschaft, die sich als historisch überlegen fühlte und mit ansehen musste, dass der Westen bessere Ware in besserer Verpackung anbot.
    Filmaufnahmen vom August 61 an Stacheldraht und Mauer gehen mir immer noch nahe. Geradezu erlösend wirkte das Passierschein-Abkommen 1962, bis dann mit dem Grundlagenvertrag 1972 sogar Freunde, mit täglich 25 DM Eintrittsgeld, einreisen konnten.
    Es bildeten sich Freundesbande mit familienähnlichen Formen, meist vermittelt durch kirchliche Kontakte. Ich hatte das Glück, seit 1963 regelmäßige Treffen mit westlichen Partnern erleben zu dürfen.
    Studentengemeinden »infizierten«, nein inspirierten den Osten mit freiheitlichem Gedankengut, auch mit den emanzipatorischen Aufbrüchen der 68er-Generation, ohne allerdings deren sozialistisch-abstrakte Illusionen und verächtliches Reden von der FdGO zu teilen. Wir hatten’s real.
    Ich fuhr im Februar 1982 zur Hochzeit meiner jüngsten Schwester und machte einen Umweg über Köln. Ein Kindheitswunsch war in Erfüllung gegangen: den Rhein und den Kölner Dom, Hamburg und die Nordsee sehen. Nie wieder wurde das von mir so intensiv erlebt, weil es den Charakter des Außerordentlichen und Einmaligen hatte.
    Allabendlich begingen fast alle geistige Republikflucht mit Westfernsehen oder Westradio – bis auf die ganz Linientreuen. Unvergessen, wie brutal die SED gesellschaftliche Führungskader zwang, alle Kontakte ins Nicht-Sozialistische Wirtschaftsgebiet (NSW) abzubrechen, ja sich von Verwandten im Westen regelrecht – mit Unterschrift! – loszusagen. Karriere oder Westfamilie, das war hier die Frage. Das Wort »Westen« hatte offiziell-ideologisch einen abwertenden Sinn, alltagspraktisch einen faszinierenden Klang: Westpaket, Westgeld, Westauto,

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