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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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muss und wie ich all den Suchenden, Zweifelnden und Fragenden annehmbare Antwortangebote geben kann.
    1974 hatte ich für einen Jugendtag in Leuna Texte zusammengestellt, von denen ich meinte, dass sie angemessen zum Ausdruck bringen könnten, was Christsein in der heutigenZeit heißt. Dabei hatte ich auch all die Bibeltexte angefügt, die ich für zentral und unverzichtbar halte. Die missionarische Wirkung auf die Staatssicherheitsleute, die dieses und andere Hefte in meiner Akte abgelegt haben, will ich nicht unterschätzen.
    Wenn die Kirche sich verändert, sich von alten Denkmustern mit guten Gründen trennt und modern werden will, darf sie sich allerdings nicht anbiedern. Was Kirche tut, darf gerade nicht beliebig werden oder sich gar zuerst daran orientieren, was bei den Massen gerade ankommt. Natürlich ist es gut und richtig, wenn wir als Kirche beim Volk sind und auch Angebote machen, die volkstümlich sind und Menschen anziehen, für die sonst die Schwellen der Kirche zu hoch sind. Es ist geradezu beeindruckend, wenn Bischöfin Junkermann auf Einladung eines Bahnhofsveranstalters im neugestalteten Bahnhof in Halle 2011 einen Gottesdienst anbietet, in dem es um unser aller Verantwortung für die geht, die in unserer Gesellschaft durchs Netz fallen. Seit mehreren Jahren gestalte ich während des Töpfermarktes in Wittenberg auf den Stufen des Rathauses einen kleinen Sonntagmorgengottesdienst für die vielen aus allen Ländern Deutschlands kommenden Töpfer. Zwei von ihnen töpfern vor den Augen der Gemeinde zuvor im Chorraum. Das sind bleibende sinnliche Erlebnisse, die ich nicht unter Event oder Highlight verbucht sehen möchte.
EIN GEBORENER STAATSFEIND
    Er setzte sich neben mich und lächelte. Das Lächeln war eine Einladung. Es sollte wie eine Hand sein, die der Helfende auf die Schulter des Hilfebedürftigen legt. Das Lächeln kam aus aller Mühe, mit der ein Mensch einem anderen Menschen etwas Gutes, ja Rettendes zugutekommen lassen will.
    Das Lächeln war nicht Güte, das Lächeln war Tücke. Es war eine Aufforderung zum Verrat. Es breitete sich als fieser Auftrag auf dem Gesicht des Schuldirektors Rudolf Zieron aus, im Herbst 1959, im zehnten Jahr der DDR, während der Schularbeiten im Schülerheim in Seehausen. Zieron lächelte, und jedes Wort, das er jetzt sagte, machte dieses Lächeln kenntlich als diabolische Miene zum ebenso diabolischen Vorschlag: »Friedrich, Sie sind doch nicht dumm. Sie können nichts dafür, dass Ihr Vater Pfarrer ist, aber werfen Sie doch allen diesen ganzen Ballast ab, mit dem Sie aufgewachsen sind.«
    Der Mensch verliert in den Selbstverständlichkeiten, mit denen er von früh auf in seinen Alltag hineinwächst, wahrscheinlich den Sinn für die Kostbarkeiten des Geläufigen, in das er gebettet ist. Aber kaum hatte der Direktor seine hinterhältig-wohlmeinende Rede beendet, überkam mich ein tiefes Gefühl von Zugehörigkeit mitten in der fremden Welt. In die Stille des Moments, in dem der lächelnde, grinsende Lehrer der Wirkung seiner Worte nachlauschte und ich meinen Ohren nicht traute – in diesen Moment Leere schoss ein so inniges wie gewaltiges, ja ein mich übersteigendes Gefühl von Verbundenheit, von Loyalität gegenüber Elternhaus und Herkunft hinein. Wenn ich bis dahin nicht gewusst hätte, was Geborgenheit ist, Getragensein, Gerechtfertigtsein in bös organisierter Welt, jetzt wusste ich es, und es war nicht nur Erkenntnis, es war Erfahrung geworden. Wenn ich heute an die Szene zurückdenke, wünsche ich mir das Bild vollendet, und das wäre: Er lächelt mich fies an, und ich lächle siegend, überlegen zurück. Ich habe nicht gelächelt.
    Solche Ratschläge, wie sie mir der Schuldirektor zu unterbreiten gewagt hatte, sollte ich noch öfters zu hören bekommen.
    Aufbruch zur Mittelschule mit Internat in Seehausen. Meine Mutter verabschiedet mich am 31. August 1958 mit einem Handfeger.
    Schon der Beginn in Seehausen glich einer Tortur, man behandelte mich wie einen Gegenstand, den man ohne Bedenkenhin und her schiebt, da er leblos ist. Ich kam mir vor wie leblos. Am 31. August 1958 war ich mit meinem Fahrrad, mit Sack und Pack, Bett und Papieren abends im Schülerheim von Seehausen angekommen. Aber dort wusste man nichts von mir. Niemand war über meine Aufnahme in die Mittelschule informiert worden. Wie kam dieser Pfarrersjunge hierher? Erst später stellte sich heraus: Eine Russisch-Lehrerin, die aus dem Baltikum stammte, ihren Ruhestand im Westen verleben

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