Klar sehen und doch hoffen
Westbesuch, Westsender, Westzeitung, Westwaren,Westreise. Westbeziehungen hatten trotz allem mehr Reiz als »Vitamin B« oder die Parteiprivilegien. Vor 50 Jahren war die »Nato-Plane« Kunstfaser-Symbol für Westbeziehungen und Wrangler geradezu ein Bekenntnis – nachdem die Direktoren auf Jeans-Verbote verzichten mussten, trug man sie selbst mit FDJ-Hemd. Plenzdorf hatte das Lebensgefühl in doppelter Wirklichkeit in seinem Stück »Die neuen Leiden des jungen W.« so gut eingefangen, dass selbst Westler es bestens verstehen konnten.
Die politisch-ökonomischen Zusammenhänge hatten uns sehr unterschiedlich geprägt, aber trotz der Teilung, die eine Ewigkeit andauerte, blieb ein Grundgefühl: Wir Deutschen gehören doch zusammen! Der vom historischen Schicksal eher begünstigte Westteil half. Symbolisch und wirklich. Familienbande zwischen Ost und West hatten sich meist als stabil erwiesen, sie hatten auch einen besonderen Reiz wegen der besonderen Schwierigkeiten gehabt. Wie übersichtlich waren doch die Konflikte zur Zeit der Teilung, die sich kaum jemand zurückwünscht. Bis 1990 hatte das Wünschen noch geholfen. Familienbande implizieren stets Doppeldeutiges. Nach dem Fall der Mauer spürten wir erst richtig, wie weit voneinander entfernt wir wohnten und wie weit die Entfremdung fortgeschritten war. Die ziemlich große Ost-Bande dachte wohl, sie könne sich auf die Tasche der Westverwandten setzen, sie kam plötzlich an und hielt die Hand auf. Und die Westseite reagierte erst großzügig, dann bald streng: Das haben wir uns alles hart erarbeitet. Nun macht ihr mal.
Die von einer Mehrheit im Osten ersehnte Einheit konnte nicht ohne Blessuren abgehen. Wir Ostdeutschen wurden häufig ziemlich undankbar und Westdeutsche ziemlich ungerecht – als ob wir die ganze Misere zu verantworten gehabt hätten. Hinzu kamen natürlich leidige Erbstreitigkeiten. Selbst verkommene Häuser kriegten ja plötzlich wieder Wert.
Am 2. Dezember 1990 fanden die ersten gesamtdeutschen freien Wahlen statt, ganz vom »Kanzler der Einheit« dominiert. Noch ein Jahr zuvor war dies schier undenkbar gewesen.
Wir sind wieder im Normalfall unserer familiären Beziehungen angekommen, denn Familie ist und bleibt das, was auf dem Sofa sitzt und übelnimmt, wie Tucholsky treffend bemerkte. Wie verstrickt doch viele Ostverwandte gewesen sind, wie ätzend haben viele Westdeutsche ostdeutsches Gehabe gefunden. Und dann erst diese Westarroganz wegen Westautos, Westmark, Westpass und Westgeruch. Die 40 Jahre Teilung mutierten zu beinahe nostalgischem Dauererzählstoff: »Weißt du noch, wie der DDR-Zoll …?« Und Westdeutsche tischen viele Angstgeschichten über die – entwürdigenden – Grenzkontrollen auf. Ein wenig wollen sie auch mitgelitten haben.
»Ihr« und »wir« werden noch einige Zeit brauchen, ehe alle selbstverständlich »WIR« sagen. Es heiratet sich längst hin und her; die geteilte Nation liebt und zeugt sich wieder zusammen und vergisst deshalb nicht die Verwurzelungen, hier und dort. Meine Kinder sind mit westdeutsch Sozialisierten verheiratet. Schön normal, nicht stinknormal!
WO GOTT EIN FREMDWORT IST
Seit meiner Kindheit wurde mir vermittelt, dass ich in dieser Gesellschaft ein Fremdling, ein Außenseiter, ein Übriggebliebener sei. Ich gehörte ja nicht der progressiven Kraft schlechthin an, sondern per Geburt zu einer rückständigen, reaktionären, unwissenschaftlichen, historisch überholten Institution. Die Religion würde, wie die ganze alte kapitalistische Welt, gesetzmäßig absterben und der kleine verbliebene Rest vonGläubigen geduldet, sofern sie sich nicht in öffentliche Angelegenheiten einmischten und sich den gesellschaftlichen Anforderungen in der DDR nicht verweigern. Wenn wir als Christen nur geduldig alles hinnähmen!
Und wir gemäß einer eigenen duckmäuserischen Gebetsformulierung aus Zeiten des christlichen Obrigkeitsstaates festhielten, »dass wir unter ihrem Schutz und Schirm ein ruhiges, stilles und gottgefälliges Leben führen mögen«. Das war nichts für mich. Und das las mein Vater jeden Sonntag als agendarisch vorgesehenes »allgemeines Fürbittgebet«. Andererseits sang ich aus vollem Herzen »Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort / und steure deiner Feinde Mord … // Beweis dein Macht, Herr Jesu Christ, / der du Herr aller Herren bist« oder das von Johann Sebastian Bach grandios vertonte Lied »Jesu, mein Freude« von Johann Franck (1653). »Unter deinen Schirmen bin ich vor den
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