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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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lese die Zeitung »Freiheit« oder das ND vom September 1989 sowie die schwülstigen Reden zum 40. Jahrestag, verbunden mit alten Drohungen. Wenn’s »von oben« anders gekommen wäre, hätten die Genossen »hier unten« ausgeführt, was von ihnen gefordert wurde. Es hätte alles ein böses Ende nehmen können. Hat es aber nicht. Schon im Oktober trat derRunde Tisch im Wittenberger Bürgermeisterzimmer zusammen, auch wenn noch nicht alle verstanden hatten, welche Stunde geschlagen hatte. Die staatliche Seite hatte noch darauf bestanden, dass ich nicht mit am Runden Tisch sitzen dürfe. Die kirchliche Seite unter Federführung von Propst Hans Treu hatte darauf bestanden – und hätte das Unternehmen sonst platzen lassen. Also »ließ man mich zu«.
    Einige bisherige Machthaber zeigten sich verantwortlich für das Ganze und für das Funktionieren der Versorgung im chaotischen Übergang. Und sie wurden – sicherlich auch notgedrungen – kooperativ.
    Irgendwie stehen wir immer noch an der Mangel – in der Überflussgesellschaft, aus der viele, viel zu viele rausfallen. Der Druck ist weniger offiziell, dafür sehr diffizil.
    Eine Wäschemangel, in einem ZDF-Gottesdienst 2007 über die FREIHEIT aufgestellt, hat uns erinnert und gemahnt: Arbeitet unverdrossen für die Druck-Freiheit und für die Freiheit vom Druck – und lasst euch den Blick nicht dafür trüben, wie sehr der Überfluss vielen Mangel nur verdeckt.
    Die Marx-Gesellschaft litt an Mangel bei fast allem, aber nicht für alle.
    Die Markt-Gesellschaft bietet Überfluss an fast allem, doch längst nicht für alle.
    Fiel früher zwar keiner durchs Netz, so wurden doch Netze über alle geworfen, die Freiheit wollten. Heute ist das Netz löchrig, und wer durchfällt, hat die »Freiheit« zu sehen, wo er bleibt. Wer allerdings rückblickend meint: »Es war doch alles ganz gut«, leidet an der gleichen Wahrnehmungstrübung wie derjenige, der sagt: »Heute ist doch alles ganz gut.« Wer die Verantwortung wieder an den vormundschaftlichen Staat abgeben will, gefährdet den demokratischen Staat wegen selbstverschuldeten Mangels an Durch- und Einsicht.
    Ich war im Konsum. Ich war im deutschen Anglerverband(DAV). Ich war nicht in der FDJ oder in der DSF wie 95 % der DDR-Bürger. Aber ich habe mich seit 1972 – vergeblich – für eine Deutsch-Polnische Freundschaftsgesellschaft eingesetzt. Ich bin Trabant gefahren. Später war ich privilegiert: über GENEX bekam ich 1979 als Dienstauto einen roten Wartburg-Kombi. Die Farbe hatte ich mir gewünscht.
DAS SYSTEM LIESS LÜCKEN, UND GEDANKEN REISEN ZOLLFREI
    Nach dem Grundlagenvertrag von 1972 konnten wir endlich Westfreunde einladen, die mit dem Zwangsumtausch ihren Eintritt bezahlen mussten. Diese Begegnungen wurden eine heute kaum noch zu ermessende Bereicherung für uns Eingemauerte. Ich gehöre zu denen, die bis heute jenen Politikern danken, die im Rahmen der Entspannungspolitik die Mauer durchlässiger gemacht und beharrlich an weiteren Schritten gearbeitet haben, wiewohl wir uns doch alle große Schritte gewünscht hätten.
    Der Erste, der zu uns kam (und gleich vier Wochen blieb), war Jürgen Haase aus Köln. Er hatte bei der BASF eine verantwortliche Position. Heute können wir darüber lachen, dass er bei seinen Besuchen – im Jahr ein- bis zweimal – natürlich in das Visier von Verfassungsschutz und Bundesnachrichtendienst geriet, weil man fürchtete, er würde etwas verraten. Und in Merseburg wurde die Stasi aktiv aus Angst, er könnte befreundete Chemiker aus Leuna und Buna abschöpfen.
    Im November 2011 nahm ich in Merseburg an einer Diskussionsrunde über »Christen und Marxisten in der DDR« teil. Die Veranstalterin, eine ehemals überzeugte Genossin, die über »Arbeitsproduktivität in der DDR« promoviert hatte, sagte: Es war doch absurd; die Staatssicherheit versuchtemeine Tante, die in der Kleiderkammer des BND gearbeitet hat, für die Stasi zu werben, und mein Vater, ein überzeugter Offizier der Volkspolizei, sollte alles über sie in Erfahrung bringen. Und sie wurde ihrerseits vom BND auf ihren Bruder angesetzt. Was hätte sie mehr vermelden können? Dass es bei ihnen nie Westfernsehen gegeben hat und die Kinder immer zu anderen Familien gehen mussten, um West zu sehen, heimlich, weil sie zu Hause davon nichts erzählen durften.
    So einfach, wie sich heute manche die Welt zurechtlegen und allein die Stasi ins Visier nehmen, war die Welt nicht. Ich erinnere nur an die Dolmetscherin der

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