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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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Leben nicht einfach und im Zwielicht der Einheitsgesellschaft klug zu schweigen ist. So perpetuierte sich eine doppelte Wirklichkeit in den Landschaften der Lüge. Das war mit dem geflügelten Wort »Das musst du dialektisch sehen« nicht aus der Welt zu bringen. Überall gab es ein Plansoll. Wenn der Plan nicht erfüllt werden konnte, wurde er präzisiert. Selbst die Stasi hatte ihr Plansoll für feindliche Elemente im Innern und außen. Dazu brauchte sie auch das Westgeld, das der Zoll aus den Briefen konfiszierte. Schalck-Golodkowski agierte bereits global, bevor amerikanische Ökonomen von der Globalisierung sprachen. Die durchregulierte Gesellschaft deregulierte und flexibilisierte, wo immer das im internationalen Klassenkampfim Interesse der Sache gut dünkte. Wer lernte von wem? Schalck verschob über alle ideologischen Grenzen hinweg und handelte zum Wohl des Volkes und der Partei alles mit allen. Auch Waffen. In den Rinderoffenställen atmeten die Kühe unbegrenzt freie Luft, während sie bis zu den Knien im gefrorenen Matsch standen. Zu den Feiertagen schwulstete aus den Kehlen »Spaniens Himmel breitet seine Sterne über unsere Schützengräben aus«. Ich lebte im »Junkerland«, das nun war »in Bauernhand«. Aber wie viele Zwiebeln anzubauen waren, bestimmte die Partei. Ich habe als einziger Schüler der ganzen Schule ohne FDJ-Hemd selten Phrasen dreschen müssen (bei der Prüfung in StaBü etwa – als Zitat), aber oft beim Dreschen des Korns geholfen. Die FDJ stieg 1961 »den Dächern aufs Dach« und drehte in die korrekte Richtung. Jedermann konnte an den Antennen sehen, wer West sah und wer sich mit Ost begnügte. Der DDR-Bürger konnte doch insgesamt ganz stolz sein. Über wen gab es herzhafter zum Lachen bringende Witze als über Ulbricht. (Mein Gott, Walter, du kabarettreif sächselnder Spitzbart, wie hast du gewettert gegen die »Bonner Ultras«, geworben für die »materiellen Stimuli« und uns eingeschärft, wie gut für »jedermann an jedem Ort zweimal in der Woche Sport« sei.)
    Gegen Jazz, Rock and Roll und Twist entwickelte man geradezu staatsoffiziös den Lipsischritt. Auseinandertanzen war und blieb in unserer ESG, in der von der SED als »entwickelte sozialistische Gesellschaft« definierten Gesellschaftsstufe auf dem Wege zum Kommunismus, lange verpönt. Was zusammengehört, kann doch nicht auseinandertanzen! Das wäre Subjektivismus und gegen den Kollektivgedanken. Worüber ich heute lauthals lachen kann, war damals nicht zum Lachen. Jeans galten als ein pro-westliches und damit anti-sozialistisches Bekenntnis, bis man sie in den unverwechselbaren Ost-Marken »Goldfuchs« oder »Wisent« produzierte.
    Westmusik war einfach besser. Immer war sie besser. Wirkliche Hits konnte die DDR-Schlagermusik nur wenige landen. Und so erfand man den Soldatensender 904, der nur Westmusik brachte, unterbrochen von Ost-Propaganda und lächerlich wirkenden verschlüsselten Funksprüchen. So durften selbst die Soldaten an der Grenze Westmusik hören, die angeblich aus dem Westen von einem illegalen kommunistischen Sender ausgestrahlt wurde. (Wer wusste eigentlich nicht, dass der Sendemast in Burg bei Magdeburg stand und nicht irgendwo in Niedersachsen?) Flugkorridore zwischen Westberlin und der Bundesrepublik waren klar festgelegt. Aber hin und wieder »verflogen« sich westliche Flugzeuge. Erst nach 1990 wurde bekannt, dass sie an ihrer Unterseite mit modernsten Kameras ausgerüstet waren. Auch ihre Bilder sollten den Frieden sichern.
    In den 50er-Jahren warfen die Flugzeuge Mengen von Flugblättern ab. Behauptet wurde, dass sie auch Kartoffelkäfer abgestreut hätten. Erst in den späten 90er-Jahren wurde öffentlich, dass 1964 ein Spionageflugzeug der Amerikaner bei Gardelegen abgeschossen worden war. Es gab damals kein diplomatisch-dramatisches Nachspiel. Wie nahe waren wir oft dem Dritten Weltkrieg gewesen?!
    Welchen Sinn die riesigen hölzernen »trigonometrischen Punkte« gehabt haben sollen, die Anfang der 60er-Jahre im ganzen Land aufgebaut worden waren, war mir damals nicht bekannt. Ich wusste allerdings, dass alle Landkarten, die man kaufen konnte, sehr verzerrt gedruckt worden waren. Nirgendwo war eingezeichnet, wohin man – wegen militärischer Sperrbezirke – nicht konnte. Wer versuchte, um die Müritz herum in die Wälder zu gehen oder bei Fürstenberg an einen See zu kommen, bekam zu spüren, dass das ganze Land mit Militär der Besatzungsmacht oder der NVA durchsetzt gewesen

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