Klar sehen und doch hoffen
Anziehungskraft: Sehen, berühren und es doch nicht fassen können! Das mächtige Gebäude mit seiner wechselvollen Geschichte erschien plötzlich in friedfertiger Schönheit. Der Koloss bekam etwas Sanftes, etwas Erhabenes und Erhebendes. Ein unwirklich wirkendes, ein Himmelsgeschenk!
In langen Reihen standen die Menschen geduldig, öffneten die Hand und bekamen ein kleines Viereck silberglänzendenStoffs in die Hand – ausgeteilt von einem hübschen Mädchen. Die Überreste des Stoffs wurden wie Hostien verteilt und angenommen, sie sind Reliquien geworden wie Bruchstücke der Mauer. Alle Generationen und Lebensstile waren hier plötzlich friedlich vereint. Eine Kindergartengruppe saß in der Sonne und malte eifrig, ohne Hast, ohne Anweisung. Erwachsene zeichneten, lasen, fotografierten. Niemand wollte etwas von ihnen, niemand war gerufen worden, niemand rief etwas zu. Die Verhüllung machte das Verhüllte auf geheimnisvolle Weise »besonders wertvoll«. Sie forderte zu nichts auf und forderte nichts ein. Wunderbare Unabsichtlichkeit! Keine Botschaft außer der des schönen Daseins, der wundersamen Verwandlung. Wie die Stiftshütte des auserwählten Volkes, wie das Zelt, das das Allerheiligste verbirgt, die Phantasie anregt, Ehrfurcht gebietet, zum Sammelpunkt, zum Mittelpunkt auf der Pilgerreise wird, so wirkte in der Vergänglichkeit seiner einmaligen Gestaltung der genial umhüllte Deutsche Reichstag. Das Volk nahm den Ort seiner höchsten Gesetzgebung betrachtend an. Ost- und Westdeutsche kamen zusammen – und es war nicht mehr wichtig und nicht mehr erkennbar, wer wer war. Hat jemals ein höchster Ort der Demokratie so viel Annahme erfahren wie dieser während des künstlerischen Spektakels?
Ich konnte es kaum fassen: Eine Ruhe, eine Heiterkeit, eine so verhalten wie gelöste Stimmung führte zur Ausgelassenheit der Sinne. Keine, gar keine Aggressivität oder Destruktivität waltete. Kein Klamauk. Kein Sprüher, keine Parole. Kein Messer, keine Schere. Kein Kommerz. So hatte es Christo gewollt. Dafür überall kleine Musikgruppen. Sommernachtsspiele im Scheinwerferschatten … Diese Deutschen machten mir einfach Hoffnung. Ich hatte das Gefühl, dass mein Volk langsam lernt, sich anzunehmen, ohne laut zu werden. Wir täten gut daran, wenn der verhüllte Reichstag fortan zu demgezählt würde, was den »Mythos« unseres Landes ausmacht. »Danke, Christo!«, möchte ich pathetisch ausrufen.
Das dritte Erlebnis, das mich mit meinem Volk irgendwie versöhnte, ohne das Dunkle wegzustreichen, war eine Aufführung der 9. Sinfonie von Ludwig van Beethoven im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt. Der litauische Chor sang die »Ode an die Freude« mit einer tiefen Verehrung für diese Musik, in einer Innigkeit, wie ich sie noch nie wahrgenommen hatte. Oh Freunde, nicht diese Töne. Ja, sag ich mir, nicht immer diese dunklen Töne. Warum nenne ich nicht selbstbewusster Leistungen der deutschen Kultur, der Wissenschaft und der Philosophie. Sie lassen mich staunen über das, was aus meinem Volk in der Mitte Europas in die Weltgeschichte eingebracht werden konnte, ohne dass ich gleich wieder nationalistische Anklänge fürchten müsste. Freilich hätte Beethoven auch den letzten Teil von Schillers Gedicht vertonen können:
Festen Mut in schweren Leiden,
Hülfe, wo die Unschuld weint,
Ewigkeit geschwornen Eiden,
Wahrheit gegen Freund und Feind,
Männerstolz vor Königsthronen, ‒
Brüder, gält es Gut und Blut –
dem Verdienste seine Kronen,
Untergang der Lügenbrut.
Rettung von Tyrannenketten
Großmut auch dem Bösewicht,
Hoffnung auf den Sterbebetten,
Gnade auf dem Hochgericht!
Auch die Toten sollen leben!
Brüder trinkt und stimmet ein
allen Sündern soll vergeben,
und die Hölle nicht mehr sein.
SELBST VERGEWISSERUNG EINES OSTDEUTSCHEN
Im August 2011 wurde offiziell an 50 Jahre Mauer erinnert. Ein halbes Jahrhundert Unfreiheit. Einbetonierte Träume. Verordnete Bewegungsenge. Verhindertes Weltbürgertum. Aufgezwungene Nähe, in der Norden und Süden, Westen und Osten nicht Angaben für das Ferne, das Weite waren, sondern Richtungsangaben, die nur immer ins hässlich Überschaubare, langweilend Übersichtliche wiesen. Und dies alles ideologisch kostümiert mit Schutzwallbehauptungen und Parolen der Friedensvorsorge. Die DDR war ein Staat wie jeder, ein System wie alle, und also führte die Widernatürlichkeit ihrer Gründung ins Natürliche jedweden Geschichtsganges: Kommt eine Ordnung an ihr eindeutiges Ende, wird
Weitere Kostenlose Bücher