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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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Brecht. Verse, gerichtet an seine deutschen Landsleute. Gerichtet an mich. Diesem Dichter verdanke ich viel bei der Suche nach dem, ja: guten Menschen. Ein Dialektiker im fordernden Sinne des Wortes, der mich mit vielen seiner Gedichte und Gedanken erreicht, auch wenn er das »Lob des Kommunismus« schrieb, im Wissen um den Stalinismus, wissend also, dass diese Verse nicht so ohne Weiteres genommen werden konnten als Feier einer zeitlosen Utopie, sondern einbezogen werden mussten in die Erfahrungen mit einer Diktatur, die sich das Kommunistische auf die Fahnen geschrieben hatte. Rote Fahnen? Blutige Fahnen.
    Dennoch: Brecht, der gute Lehrer, der mehr auf das Lernen Wert legt als auf die Lehre. So blieb er lebendig. Ich denke an die »Fragen eines lesenden Arbeiters« – etwa die Frage, ob Caesar bei der Eroberung Galliens nicht wenigstens einen Koch bei sich gehabt habe. Honecker hatte einen Maurer bei sich, als er die Mauer als »antifaschistischen Schutzwall« errichtete! Nicht ein Diktator allein errichtet die Diktatur, er hat meistens ein Volk bei sich, das irgendwann nicht mehr bei sich ist, das sich also vergisst, vor allem seine Schuld. Gewiss, dieser Mechanismus der Geschichte ist es, der den Hass der Mutigen, der Tapferen, der Unbestechlichen hervorruft, aber auch dieser gerechte und verständliche Hass macht die Stimme heiser. So mögen unerbittliche Wahrheit und bittende Versöhnung zueinanderfinden; es möge beim Blick auf überstandene elende Zeiten auch die Nachsicht ihr Rechterhalten. Nachsicht, befördert von der Erfahrung, die Nelly Sachs in die Worte fasste: »Der Mensch will eben lieber glücklich sein als gut.«
WARUM ICH PFARRER GEBLIEBEN BIN
    Sprache verführt. Auftritt erhebt. Wirkung beflügelt. Wer sich ins Öffentliche wagt und vor Publikum das Wort nimmt, der ist bisweilen einem Rausch der Genugtuung hingegeben, wie er in gleichem Maße einer dauernden Selbstprüfung – verbunden mit Selbstzweifeln – ausgesetzt bleibt: Es hat keinen Sinn, die Eitelkeit zu leugnen, die mit im Spiele ist, aber das Spiel darf den Sinn nicht besiegen. Ich bin nicht Schauspieler geworden, um nicht gesehen zu werden, sagte der Schauspieler Klaus Maria Brandauer. Abgewandelt könnte ich sagen: Ich bin nicht Pfarrer geworden, um nicht gehört zu werden. Wer kein elementares Mitteilungsbedürfnis in sich spürt, soll diesen Beruf genauso wenig ergreifen wie der, der nicht aufmerksam zuzuhören und gesammelt zu schweigen vermag.
    Die Kanzel ist eine Erhöhung, Seelsorge ist immer auch Gesprächsführung. Das Wort ist sehr wohl eine Macht, es macht etwas aus uns. Und es ist immer wieder eine schwere Übung, Denken und Sprechen in eine kausale Beziehung zu bringen. Goethes Faust ringt um die Wahrheit, was wohl zuerst dagewesen sei, das Wort oder die Tat. Wer den Umgang mit dem Wort zu seinem Beruf erhebt, dem ist die Sprache Tatinstrument, Handwerksgerät, Mittel also – und zugleich ist sie aber auch Zweck, Ziel, sie ist das Resultat, an dem man gemessen und bewertet wird. Sprache, die mich laut werden lässt, während andere zuhörend schweigen – sie muss meine Gedanken ausdrücken, sie ist die Brücke, die ich zu anderenMenschen baue. Eine Sprache aus Hüllen und Hülsen würde gewiss nicht halten.
    Mit dem Exarchen für Berlin und Mitteleuropa, Erzbischof German, am 25. April 1990 in Torgau, 45 Jahre nach der ersten Begegnung von US-amerikanischen und sowjetischen Truppen an der Elbe
    In den Umbruchszeiten der DDR gerieten zahlreiche Pfarrer in den Sog des politischen Geschäfts. Vielleicht, weil ihre Ausdruckskraft hoffnungsvolle Schlüsse auf ihre Handlungsstärke zuließ. Immer ist in der Politik die rhetorische Schwäche der Verantwortlichen ein besonders auffälliges Indiz für ihre allgemeine Unfähigkeit. Und immer sucht sich Masse, die keine Fürsprecher hat, die Stimmbegabten, Wortgewandten als Verstärker ihrer Ohnmacht, dann als Medium, dieser Ohnmacht kraftvoll abzuhelfen. Das Wort im Munde herumdrehen – das hieß in jenem Herbst 1989 und in den folgenden Monaten: das Schweigen umkehren in deutliche Ansagen gegen das herrschende Regime. Wie gesagt: die Stunde der Pfarrer. Auch meine Stunde. Den Kairos nennt man das. Er ist da, will ergriffen sein, geht vorüber.
    Immer wieder werde ich seither gefragt, warum ich nicht auch hauptamtlich in die Politik ginge. Mag sein, dass dort, wo ich gewirkt hätte, eine andere Politik gemacht worden wäre als die geläufige, gewöhnliche, behäbige, die wir

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