Klar sehen und doch hoffen
täglich erleben. Aber auch ich wäre dann anders geworden – weil jeden Menschen die eine, unaufhaltsame Gefahr einholt: Das politische Amt macht den Menschen eher, als dass der Mensch das Amt macht.
Ich will nicht behaupten, a priori und unberührt den Verlockungen mancher Anfrage widerstanden zu haben. Manche Bitte um Mitarbeit schmeichelt. Und sie ängstet. Wenn ich angesichts der Anfechtungen verstärkt über mich nachdachte und sehr früh die Grundsatzentscheidung traf, dem Weg vieler meiner Freunde und Mitstreiter aus der Kirche in die Politik nicht zu folgen, so waren es vier Gesichtspunkte, die mich leiteten. Auch wenn ich daran litt, wie der eine oder andere hilflos herumstolperte im neuen Metier, die ganze Zunft blamierte oder sich gar durch Gnadenlosigkeit hervortat. Auch wenn ich über offenkundige Unfähigkeiten den Kopf schüttelte und noch mehr darüber, wie wenig man daraus Konsequenzen zog.
Der erste, mir wichtigste Grund, Pfarrer geblieben zu sein: Ich bin zu gern Pfarrer. Für mich ist das kein Job, keine austauschbare Tätigkeit, die man für eine Weile auf Eis legen kann. Ich hatte zwar auch aus politischen beziehungsweise apologetischen Gründen Theologie studiert, ich wollte im kirchenfeindlichen System der DDR ein prononcierter Verteidiger des Christentums sein, ich sah mich zuvörderst politisch auf Politik reagieren – aber das hat sich im Laufe des Studiums geändert. Meine Leidenschaft wuchs vom Kopf ins Herz, wahrlich: Was ich fortan tat, ging mir zu Herzen. 1969 habe ich in der Ordination versprochen, Menschen das Evangelium nahezubringen. Daraus wollte und konnte ich michnicht lösen. Die Kirche war meine Kirche, war mir in der DDR-Zeit geistiges, geistliches und mitmenschliches zu Hause geworden. Hinter den alten ehrwürdigen, ziemlich dicken Mauern des Gotteshauses erlebte ich Offenheit, gedanklichen Durchzug, Freiheit. Dies änderte sich nach 1990, der Wechsel des Empfindens hängt mit Personen und mit einem ganz anderen Selbstverständnis von Kirche heute zusammen. Eine reiche Kirche ist eine andere Institution als jene Kirche, deren Reichtum sich aus geistig-geistlicher Konzentration und unmittelbarer Bindung an die Ohnmächtigen speiste.
Ich habe als Studieninspektor, als Vikar, als Studenten- und Jugendpfarrer, als Synodaler, als Dozent am Evangelischen Predigerseminar, schließlich als Theologischer Studienleiter an der Evangelischen Akademie und nicht zuletzt in meinen Büchern stets versucht, das Spirituelle und das Intellektuelle so zusammenzu bringen, dass Gemüt und Verstand zusammen bleiben, dass verbindliche Gemeinschaft von freien Menschen gestiftet wird. Ein Christ braucht die Gemeinschaft und die Fürbitte der anderen Christen, um sein Christsein in privaten und gesellschaftlichen Bezügen gleichermaßen verantworten und gestalten zu können. Der Einzelne braucht die Bindungsgabe der Gemeinschaft, und die Gemeinschaft muss so viel Größe haben, dem Einzelnen Räume des Alleinseins und des Andersseins zu belassen. Gemeinschaft, so der Traum, möge die Sicherheit dafür bleiben, dass Alleinsein nicht in Einsamkeit umschlägt, und just die vielgestaltige Kraft des Individuellen möge der Gemeinschaft die Energie des Bestandes und der Beweglichkeit gewährleisten. Immer wieder leuchten mir in diesem Zusammenhang Gedanken Bonhoeffers ein: »Wer Gemeinschaft sucht ohne Alleinsein, der stürzt in die Leere der Worte und Gefühle, wer Alleinsein sucht ohne Gemeinschaft, der kommt in Abgründen der Eitelkeit, Selbstvernarrtheit und Verzweiflung um.«
Stets bin ich dankbar dafür gewesen, dass es eine Institution für mich gab, die mich »entlohnte«, indem sie mir – neben einigen drückenden Amtslasten – die Beschäftigung mit großen alten Texten ermöglichte. Mit größtmöglicher Kraft und wahrhafter Lust habe ich mich in biblische Texte versenkt – tiefer!, noch tiefer!, und es wurde mir nicht dunkel, sondern hell und heller. Die Lust bestand nicht in historisierender Festschreibung, nicht in philologischer Forschung – nein, mir ging es stets darum, die biblischen Erzählungen in die heutige Zeit zu übersetzen. Bibel lesen, von der Bibel sprechen: Das ist Vertrauen in die erschütternde Kraft des Erzählens. Etwas Vergangenes nicht nur als vergangen betrachten, sondern, davon erzählend, fragen: Wie ist es heute? Was geschieht mit mir, mit dir, mit uns? Erfahrungen der alten Zeugen verwachsen sich mit den Erfahrungen heute.
Nichts Menschliches ist der Bibel
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