Klar sehen und doch hoffen
Mehrheiten als um eigene Überzeugungen zu kümmern. Das taktische Vermögen als ständiger Korrektor des Charakters. Man ist ein durch Wahl in die Verantwortung Geschickter – und muss dann, um dieser Verantwortung gerecht zu werden, vor allem geschickt sein? Kann ich nicht!Will ich nicht! Ich kann mir schlecht vorstellen, mir in der Partei tagtäglich – Strippen ziehend – eine Hausmacht organisieren zu müssen und andererseits auf den politischen Konkurrenten ständig einzuschlagen, in abgekartetem Vokabular und nach fortwährender Publizität haschend. Und täglich publizistisch verfolgt zu werden, die unvermeidlichen Fehler verbissen vermeiden wollen. Nie darf es aus besagtem taktischem Kalkül erlaubt sein, sich selber zweifelnd in den Gedanken, ins Wort zu fallen. Jeder Politiker, der als solcher gelten will, präsentiert sich als unangreifbare Spiegelfestung, selbstsicher, gepanzert gegen andere Argumente. Die Gelassenheit, das alles zu ertragen, fehlt mir. Ich bewundere Leute, die das können, ohne Schaden zu nehmen.
Und schließlich der vierte Grund meiner Absage an den Berufspolitiker: Ich könnte sehr schlecht schlafen. Mich würde der niemals kleiner werdende Berg ungelöster, unlösbarer Aufgaben quälend wachhalten. Ich wäre zu empfindlich, um stets unangefochten, hart, quasi aussitzend im Sperrfeuer derer stehen zu können, die selber nicht handeln, sondern nur kommentieren, personalisieren, zuspitzen und aufhetzen. Ich habe dafür wohl einfach eine zu dünne Haut.
Meine Absage an dieses andere Leben bedeutet nicht Minderung des Respekts und der Achtung gegenüber jenen, die politische Verantwortung übernehmen und denen es gelingt, kritische Distanz zu sich selbst zu behalten. Es gibt viele, die dazu befähigt sind – wozu gehört, dass sie als Personen mehr sind als das Amt, das ihnen auf Zeit übertragen ist. Eine schwierige Aufgabe. Dass es ein Leben außerhalb der Politik gibt, sagen die meisten Politiker – zu laut! – erst dann, wenn sie ihr Amt abgeben (müssen).
Mein Fühlen mit denen, die Politik betreiben, offenbart sich darin, dass ich immer für sie mit bete. Verantwortung tragen – unsere Sprache hat die Tiefe des Problems sehr plastisch erfasstund ins Wort genommen. Verantwortung ist eine Last, man muss sie auf sich nehmen, sie hat Konsequenzen für den freien, aufrechten Gang. Man ist eher Diener als Herr. Hohe Ebenen sind klein. Wie viele Aufgestiegene habe ich kennengelernt, die in der dünnen Luft »da oben« einsam geworden sind und auch das noch verstecken müssen. Die Welt der Politiker ist übersät von unglücklichen Betreibern eines Maskenspiels, eines ungesunden Rausches und eines seelischen Verschleißes, der in krassem Widerspruch steht zu Sinn und Zweck von Politik. Ein Sinn, den Hannah Arendt ins prägnante Wort vom »gemeinschaftlichen freien Miteinander« brachte.
Demokratie ist ein äußerst zerbrechliches zivilisatorisches Projekt. Demokratie ist auf so mündige wie mündig gemachte, einsatzbereite, auf mutig handelnde wie bedächtig reflektierende Bürger angewiesen; in der unmittelbaren Politik – aber eben auch außerhalb direkter politischer Verantwortung in der Zivilgesellschaft.
Ich nehme mein staatsbürgerliches Amt auf meine Weise wahr – steige auf die Kanzel und aufs Rednerpult, gehe ins seelsorgerische Gespräch und in Gesprächsrunden, schreibe Briefe und Texte. Lebe.
WIE ICH BEWAHRT WURDE
Bewahrung der Schöpfung. Sie ist eine Aufgabe, die aus unseren intelligenten Möglichkeiten ebenso erwächst wie aus der hybriden Art, uns die Welt raubkulturell anzueignen.
Hauchdünn ist die Atmosphäre, die dem Leben auf unserem Planeten den Existenzraum sichert. Hauchdünn ist jene Grenzlinie, die jedes Wesen vom Tode trennt. An dieser Linie haben sich Ärzte, Techniker, Dichter, Pfarrer, Clowns, Lebensertüchtigerund Nothelfer aller Art postiert. Wir beherrschen vielleicht Abläufe des Sterbens ein wenig kundiger als früher, den Zeit- und Zugriffsplan des Todes freilich enthüllt uns keine Seherkraft, kein Geheimdienst, keine Hard- und keine Software. Wir sind schöpferische Geschöpfe, aber unsere Kraft erschöpft sich, wo das Schicksal auf seiner Gnadenlosigkeit besteht und blind agiert. Lebenslang begleitet uns eine tiefe Unsicherheit. Utopien können uns geistig weit in die Zukunft werfen; die Endlichkeit des einzelnen Lebens ist unaufhebbar.
Mein Leben ist auf seltsame Weise (manchmal denke ich: auf verstörende Weise) mit sterbensnahen
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