Klar sehen und doch hoffen
sie sich dennoch nicht selber einfalten wie eine Landkarte, aus der Geografie und Geodäsie ausscheidet. Das wäre absurd. Die DDR war im Frühsommer 1953 an eine erste Ahnung ihrer Existenzunfähigkeit gekommen. Die in den folgenden Jahren anwachsenden Flüchtlingsströme gen Westen erzählten krass und unmissverständlich die Geschichte der unausweichlichen Ausblutung – die Mauer war demnach eine logische Folge, wahrlich: eine Schutzmaßnahme. Ein Staat wehrte sich, vielleicht sogar gegen eine Auslöschung mit verheerenden Folgen eines neuerlichen Krieges. Nur brach mit diesem Akt der Einzementierung ein für alle Mal das Gedankengebäude der historischen Alternativtheorien zusammen. Das vermeintlich bessere Land festigte nur weiter seine Schäbigkeit. Der siegessichere Sozialismus flickte nur immer seine Riss-Stellen. Der Lack, das billige Ostprodukt, blieb nirgends mehr kaschierend kleben. Auch die angeblich so große Idee vermickerte endgültig unter dem Verdikt, nicht über die Mauer schauen zu dürfen.
Hinter dieser unansehnlichen Wand, hinter diesem menschenverachtendenStacheldraht habe ich 28 Jahre gelebt – auf jener Seite, wo der Beton nicht farbig bemalt und besprüht werden durfte, sondern gleichsam in der Pflicht stand, sein graues, abweisendes Schandgesicht tagtäglich zu offenbaren. So stur, so unberührbar, so direkt und geradezu schamlos, dass diese tödliche Grenzziehung es tatsächlich schaffte, in einem nicht unbeträchtlichen Teil der DDR-Bevölkerung so etwas wie Gewöhnung, Unaufgeregtheit, Beruhigung zu erzeugen. Immer dürfen die Diebe und Schänder der Freiheit damit rechnen, dass die Nöte und Reize des gewöhnlichen Alltags in Bevölkerungen andere Prioritäten setzen, als sie der Traum von Weltoffenheit und Freizügigkeit erzeugen möchte. So gelingen sozial entgegenkommenden Diktatoren stets aufs Neue unerwartete Teilsiege, früher wie heute – wie wohl immerdar.
Nun, die deutsch-deutsche Grenze mit Todesstreifen ist längst abgeräumt. Vorbei auch der kulturelle Kälteschock, der vor zwanzig Jahren einsetzte, wenn einer vom freien Wendland in die von vielem Verfall gezeichnete und doch so schöne Altmark, die alte Grenze zum Slawischen, fuhr. Mein Heimatgefilde Altmark stand so verschämt und zerschlissen in der neuen Freiheit – und blühte seither so sehenswert auf. Gierig sogen meine Blicke diese Veränderung auf, diese Verschönerung wie sie von Jahr zu Jahr sich vollzog. Aufatmen, Lächeln, Wohlgefühl; so ganz anders fuhr oder spazierte man plötzlich durchs Heimatliche.
Aber solche Euphorien legen sich, wenn man nicht gewillt ist, im äußerlichen Eindruck schon das Ganze zu sehen. Zur Wahrheit der neuen Anblicke gehört die innere Ausdünnung. Arbeit gibt es in der Altmark kaum, die jungen Leute verlassen das aufgeschönte Feld, wieder ist der Westen der lockende Reiz, und dies nicht wegen der Freiheit, die wurde ausgiebig ausgeteilt, sondern nur wegen des Brotes, das mandoch früher auch im Osten zur Genüge und überbillig hatte. So kehrt man sehnsüchtig zu den Bedürfnissen zurück, die man zwischen den Stacheldrahtrollen und Betonwänden geringschätzte. Seltsames Sehnsuchtswesen Mensch.
Auch ich entdeckte an mir eine Wandlung der Wahrnehmungen meines Landes. Die Sauberkeit der Innenstädte, der Straßen, der Reihenhauskultur, der Fassaden und Kulissen, der Glas- und Glitzerarchitekturen, die lächelnden Moderatoren, die unausgesetzten Freundlichkeiten steigerten meine Aufmerksamkeit für das Unaufgeräumte, Unperfekte, Ungeputzte. Plötzlich schien Glanz auch Sterilität zu sein, das Individuelle wich neuer Uniformität, das Geschniegelte und Gebügelte schuf eine neuerliche Austauschbarkeit. Es ist doch der Makel, der die wahre Schönheit schafft – er ist getilgt im unablässigen Mühen um eine Perfektion, die den Wunsch nach Unangreifbarkeit ausdrückt; als wolle man Kenntlichkeit nicht herstellen, sondern verbergen. Der Dichter Heiner Müller hat das in seinem unnachahmlichen, oft augenzwinkernden Zynismus in den Satz gefasst: »Die vor Fülle und Farbenpracht überquellenden Geranienbalkons am Chiemsee bei München wirken auf mich so tot – da wird Umweltverschmutzung geradezu zur letzten Hoffnung, dass reales Leben stattfindet.«
So entsteht trotzige Selbstbehauptung. So gesteht Neuigkeitsdrang seine Ermüdbarkeit. Seit ich die gepflegte Zersiedlung der Dörfer im Westen erfahre, erscheinen mir unsere verfallenen und verlotterten Dorfstrukturen im Osten
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