Klar sehen und doch hoffen
als – schön. Seit ich den Kölner Dom gesehen habe, weiß ich, wie großartig der Magdeburger Dom sich aufreckt. Seit ich mir den Kindertraum erfüllte, eine Nordseeinsel mit Gezeiten und Watt zu erleben, ist mir bewusst geworden, wie unvergleichbar doch Hiddensee im Meer liegt. Seit ich ratlos vor den Bildern von Georg Baselitz im Sprengel-Museum inHannover stehen darf, suche ich verstärkt nach Gemälden des Leipziger Malers Wolfgang Mattheuer. Seit ich so viel Botho Strauß lesen kann, wie ich möchte, verlangt es mich geradezu nach Volker Braun. Seit ich mich wöchentlich durch die »Zeit« wühle und Stapel des noch Ungelesenen häufe, kaufe ich regelmäßig das »Neue Deutschland« und freue mich besonders am Feuilleton. Seit das westdeutsche Feuilleton uns richterlich beschied, was von Christa Wolf literarisch wirklich zu halten sei, empfinde ich noch weit inniger, wie groß und wertvoll ihr Werk ist. Und bleibt! Seit auch unsere Kirche ungehindert von staatlicher Pression alles darf, leide ich an deren zunehmender Beliebigkeit, einschließlich Proporzturnerei und Eventhascherei. Seit ich ein Pfarrer mit »angemessenem« Gehalt wurde, spürte ich mit dem wachsenden sozialen Abstand zu anderen Ostbürgern das Gewicht meiner Worte abnehmen. Seit einer meiner Amtsbrüder den dürftigen Weihnachtsmarkt segnete, ein anderer die Zeremonien am Denkmal der Gefallenen »Für Gott und Vaterland« mitgestaltete, an dem auch das Eiserne Kreuz in Stein gehauen ist, frage ich mich, ob wir beide noch in der gleichen Kirche sind und ob noch das gilt, was wir bis 1989 gemeinsam anstrebten. Und seit die Mehrheitsdeutschen sich so selbstgewiss, so deutungssicher, so urteilsharsch über unsere DDR-Vergangenheit hermachen wie über eine Beute, wächst in mir eine Lust, das Leben in dieser Vergangenheit zu verteidigen. Eingedenk der Gefahr, dass diese Differenzierung von den notorisch Böswilligen als Verklärung denunziert wird. Seit für sämtliche negativen, zweifelhaften, problematischen Folgen des Vereinigungsprozesses noch immer und weiterhin die SED verantwortlich gemacht wird, zweifle ich an der Fähigkeit der demokratischen Parteien zu redlicher Selbstkritik. Das musste ich vierzig Jahre lang erdulden, daher sträube ich mich gegen eine Wiederkehr desFatalen just unter den demokratischen Verhältnissen, die doch herausführen sollten aus diesem geistigen Elend, das da lautet: Schuld ist immer der Feind, und immer, das heißt gestern, heute und selbstverständlich auch morgen. Wenn dieser Feind längst modert. Ein bitteres Fazit jahrhundertelanger Aufklärung: Es geht nicht ohne Gespenster.
Vor dem Kommunismus habe ich keine Angst mehr, eher vor den Folgen des Konsumismus, vor Nationalismus und Fundamentalismus, vor einem globalen Neoliberalismus, der sich als unbeherrschbar erweisen könnte. Jeder Ismus wirft uns zurück in graue, zerstörerische Vorzeiten, und jenes Schreckensbild, das eine fortwährende Parteienpolitik der Grobeinstellungen nach wie vor von Sozialismus und Kommunismus in gespielter Panik an die Wände malt – es soll doch meist nur ablenken von eigenen geistigen Verhärtungen, von Herrschsucht und bewegungsresistenter Machtsicherung. Selbstredend bin ich trotz aller hartnäckigen Verwerfungen jeden Tag glücklich, dass die großen und betrübenden Schwierigkeiten in diesem Deutschland Schwierigkeiten eines Einigungsprozesses sind, gesetzt gegen die furchtbare Erfahrung der künstlichen und doch so tödlich realen Trennung. Eine paradoxe Formulierung, dennoch wahr: Erst jetzt spüren wir, wie sehr diese Trennung uns verbunden hat. Fremdheit auf beiden Seiten und eine Spaltung, die sich tiefer als gedacht vollzog, weit ins Heute nachwirkend, da das Monstrum abgetragen wurde und vom Todesstreifen vielerorts nur das »Grüne Band« von unerwartet sich bildenden Biotopen blieb. Wir haben noch viel Arbeit vor uns.
Wir sprechen deutsch, aber doch verschiedene Sprachen. Verständigung miteinander erfordert viel Selbstverständigung. Wenn wir uns gegenseitig unsere Differenzen eingestehen, werden wir besser verstehen und weiterhin lernen,mehr miteinander als übereinander zu sprechen, uns vorschneller Urteile zu enthalten, beidseitige Beschädigungen zu erkennen und uns in Solidarität und Gemeinsinn den neuen Bedingungen in einer mehr und mehr unteilbaren Welt tapfer zu stellen.
»Alle sollen was bauen / Da kann man allen trauen / … / Die Jungen sollen’s erreichen. / Die Alten desgleichen.« 19
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