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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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und Hermine in der Börde mit, dass er »auf Budensuche gegangen« sei: »Ich wohnte zuerst Laurentiusstr. 15. Ich stellte aber sogleich fest, dass es Juden waren, und bin daher sofort umgezogen nach Brandenburgerstr. 10 I.« Hier fühlte er sich »sehr wohl«. Ein paar Monate später, im April 1935, riet er, »Triumph des Willens«, den »großartigen« Parteitagsfilm, unbedingt anzuschauen. Dennoch wurde aus ihm kein überzeugter oder aktiver Nazi. Eine Abwertung der Juden oder anderer Völker habe ich nie von ihm gehört. Für sein 1. Theologisches Examen lernte er in dem 1937 erschienenen Ethikbuch von Alfred Dedo Müller. Darin hieß es, dass »eine theologische Betrachtung die ganze Tiefe und Unausrottbarkeit des kriegerischen Instinktes in der menschlichen Natur zu Gesicht bekommen« müsse. Der Krieg sei »offenkundig eine anthropologische Wirklichkeit, die wir einfach vorfinden«. 2
    Müller tritt »der ideologischen Verfälschung des ganzen Problems durch den aufklärerischen Pazifismus« entgegen. 3 Luther habe den »Gehorsam gegen den Staat im Liebesgebot verankert«, und so sei ein Christ aufgefordert, »um der Liebe willen sich dem staatlichen Gebot zu unterwerfen«. Für die Verwirklichung dieser Gedanken biete die gegenwärtige politische Lage einzigartige Bedingungen, weil die die sogenannte deutsche Revolution tragende politische Bewegung »ganz aus dem repräsentativen Erlebnis eines Mannes wuchs, der von sich sagen kann: ›Aus dem Volke bin ich gewachsen, im Volke bin ich geblieben, zum Volke kehre ich zurück‹« 4 .
    Alfred Dedo Müller lehrte bis 1957 an der Leipziger Universität,die seit 1953 den Namen von Karl Marx trug. Dort dominierten »rote Theologen«. Zu ihnen wollte ich nicht, auch wenn mich der religiöse Sozialist Paul Tillich, der in die USA emigriert war, mit seinen Schriften früh fasziniert hatte. Karl Barth, den Sozialdemokraten, verehrte ich. Er war 1935 als Professor, nachdem er den Eid auf den Führer nicht abgelegt hatte, in die Schweiz zurückgegangen. Eigentlich wollte ich in Westberlin studieren, um Helmut Gollwitzer, den Nachfolger Martin Niemöllers und Hitler-Gegner, hören zu können. Die Mauer machte es unmöglich. So entschied ich mich für Halle. Als ich 1962 dort mein Studium begann, sprach keiner von der Vertreibung des »roten« Professors Günther Dehn durch nationalsozialistische (Theologie-)Studenten im Juni 1933. Mein Vater war daran nicht beteiligt, soweit ich weiß. Für mich ist es heute noch ein Skandal, was damals zum Skandal erklärt wurde. Dehn hatte 1928 beklagt, es sei üblich geworden, den Tod fürs Vaterland im Ersten Weltkrieg unter das Bibelwort »Niemand hat größere Liebe denn die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde« (Johannes 15,13) zu stellen. Er wandte ein, der, der getötet wurde, habe »eben auch selbst … töten wollen. Damit wird die Parallelisierung mit dem christlichen Opfertod zu einer Unmöglichkeit.«
    Ich gehe noch einen Schritt weiter. Mit Tucholsky bin ich der Meinung, dass Soldaten – auch die ermordeten – Mörder sind, weil sie unter dem staatlich sanktionierten Befehl stehen, den Feind zu vernichten. Sie müssen morden, um eines vermeintlich hohen Zieles willen. Das ist ihre moralische Pflicht. Werden sie selbst Opfer dieser Perversion und sterben den »Heldentod«, nennt man sie verharmlosend »Gefallene«. Dem Sinn-losen soll so als Trost für Hinterbliebene ein Sinn verliehen werden. Mich erschreckte die Radikalität eines Kurt Tucholsky. 1931 hatte er in der »Weltbühne« den Artikel »Der bewachte Kriegsschauplatz« mit dem provokanten Satz»Soldaten sind Mörder« veröffentlicht, der bis in die jüngste Zeit heftige Diskussionen ausgelöst hat und Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzungen war, u. a. im Zusammenhang mit der Bombardierung der Tanklastzüge bei Kunduz.
    Tucholsky hatte den Offiziersgeist als junger Mann radikal abgelehnt, aber auch sehr früh die Erfahrung der eigenen Verführbarkeit thematisiert. Gruppendynamik in einer Armee konnte selbst Tucholsky in ihren Bann ziehen. Dabei hatte er den Mechanismus des Militarismus längst erkannt und bereits 1912 Krieg mit Mord gleichgesetzt. Er wurde im Ersten Weltkrieg nicht an die Front abkommandiert, sondern von vornherein in die Etappe. Er schrieb offen, dass er nicht sterben wolle. Zum Helden oder Märtyrer sei er nicht geboren. »So tat ich, was ziemlich allgemein getan wurde: ich wandte viele Mittel an, um nicht erschossen zu werden

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