Klar sehen und doch hoffen
und um nicht zu schießen – nicht einmal die schlimmsten Mittel. Aber ich hätte alle, ohne jede Ausnahme alle, angewandt, wenn man mich gezwungen hätte: keine Bestechung, keine andre strafbare Handlung hätt’ ich verschmäht. Viele taten ebenso.« 5 Er hatte sich in der Etappe relativ gemütlich eingerichtet. Seine Äußerungen sind durchaus zwiespältig. So schrieb er einerseits: »Es ist noch nicht – nach 6000 Jahren noch nicht – in die Köpfe gegangen, daß Blut Blut ist und daß es keinen geheiligten Mord geben darf.« Andererseits: »Ich wünschte nicht, daß der Krieg nun auf einmal ein Ende hätte – ein Jahr brauche ich ihn noch.« 6
Erst in dem Text »Der bewachte Kriegsschauplatz« bäumte er sich scharf gegen die Absurdität des Krieges auf, weil dieser alle zivilisatorischen Errungenschaften außer Kraft setze. »Da gab es vier Jahre lang ganze Quadratmeilen Landes, auf denen war der Mord obligatorisch, während er eine halbe Stunde davon entfernt ebenso streng verboten war. Sagte ich: Mord? Natürlich Mord. Soldaten sind Mörder. Es ist ungemeinbezeichnend, daß sich neulich ein sicherlich anständig empfindender protestantischer Geistlicher gegen den Vorwurf gewehrt hat, die Soldaten Mörder genannt zu haben, denn in seinen Kreisen gilt das als Vorwurf.« 7
Ich frag mich, wie man diese Scharfzunge auf »Mutterns Hände« und »Schloss Gripsholm« verharmlosen oder in der DDR im antimilitaristischen Kampf instrumentalisieren konnte. Mir erschloss sich eine neue, auch religiöse Fragen berührende Welt bei Tucholsky, als ich 1997 zur Verleihung des Tucholsky-Preises an den schweizerischen Dichter, Pfarrer und Pazifisten Kurt Marti die Laudatio als Jurymitglied im Deutschen Theater in Berlin zu halten hatte. 8
In Vaters Bibliothek stand jeder in der DDR veröffentlichte Tucholsky-Band. Und zu meinen ersten selber gekauften Büchern gehörte »Tucholsky. Ein Lesebuch für unsere Zeit«, herausgegeben von Walther Victor im Thüringer Volksverlag, es erreichte schon 1954 eine Auflage von 40 000. (Auch das war DDR-Kulturpolitik, die Spuren hinterlassen hat.) Wenn beim Großen Zapfenstreich vor Schloss Bellevue heutzutage der Befehl kommt: »Helm ab zum Gebet«, dann höre ich immer Tucholskys »Kopf ab zum Gebet« (»Gebet nach dem Schlachten«) mit.
Rückblickend auf meine Studienzeit, erachte ich es als unverdientes Glück, dass ich aus den Ethikfragmenten des Hitler-Gegners und Verantwortungspazifisten Bonhoeffer lernen und an ihm meine Maßstäbe für das Menschliche – für das das Christliche einsteht – gewinnen und justieren konnte. Seine Texte haben mich ermutigt. An ihm habe ich mich immer wieder aufgerichtet.
»Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein« (Joh. 8,7). Den Stein auf meinen Vater lasse ich in der Tasche. Ich bin dankbar und freue mich, dass ich trotz Wehrdienstverweigerung 30 Jahre nach ihm mit anderen Einsichtenund Aussichten studieren konnte, dass ich nicht solchen politischen Versuchungen ausgesetzt gewesen bin wie er und nicht in einen Krieg ziehen musste. Ich will nicht mit den Erkenntnissen von heute neunmalklug daherkommen und richten. Die Vorgänge werten, das will ich um der Zukunft willen. Ich kann die Enkelin von Generalfeldmarschall Rommel gut verstehen, die nicht darüber richten mag, wie sich Menschen in einer Diktatur verhielten. »Ich bete für uns, dass wir nie in die Lage geraten, unsere Zivilcourage in einer Zwangsherrschaft unter Beweis stellen zu müssen.« 9
VATER KOMM, ERZÄHL VOM KRIEG
Als Sanitätsgefreiter hat mein Vater die ersten Tage des Unternehmens »Barbarossa«, jenes barbarischen Raub- und Vernichtungskrieges, miterlebt, bald auch die Gnadenlosigkeit, mit der Partisanen hingemordet und Dörfer ausgeraubt wurden.
In seinem 269 Seiten langen Kriegstagebuch las ich 70 Jahre nach dem Überfall auf die Sowjetunion.
Samstag, 21. 6. 1941
Wir liegen seit vorgestern Nacht in einem kleinen Wäldchen, das nur wenige Kilometer vom Bug entfernt sein soll. Wir haben ein Zeltkamp aufgebaut und faulenzen in die wunderschönen Tage hinein. Gegen Abend und in der Nacht hören wir ferne Detonationen. Die Russen scheinen zu sprengen. Der Sonnenuntergang tauchte das flache Land von zahlreichen Waldstücken in ein goldenes Licht, dass man den Krieg vergessen konnte. Doch das stumpfe Sprenggeräusch jenseits des Flusses ließ uns immer wieder an das bevorstehende Ereignis denken. Gestern wurde uns das allgemeine Marschrichtungsziel
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