Klar sehen und doch hoffen
Kleidungsstück findet man heute mindestens fünf Etiketten. Ich bin im Laufe der Jahre auf Dutzende Etiketten gekommen, mit denen man mich bedachte – sachlich, teilnahmsvoll, mitunter schmeichelhaft, aber auch heftig schmähend, mich missverstehend oder schroff bis gemein ablehnend. Die Stasi nannte mich stets »widersprüchlich«, das klingt im Arsenal der groben Schnüffel- und Denunziationsprosa fast wie eine Verirrung ins Milde. Ich musste mich mit den Jahren damit abfinden, dass meine Art polarisiert. Allen, die es nicht lassen können,die Welt in Freunde und Feinde einzuteilen, biete ich eine willkommene Projektionsfläche, ohne es im Geringsten darauf anzulegen. Alpha braucht auf Anti-Alpha nicht lange zu warten. Wahrscheinlich wirke ich auf manche Menschen auch im Sitzen wie jemand, der gerade die Treppen zu einer Kanzel nimmt. Das ist wohl das Schicksal aller, die in der zugigen Öffentlichkeit tätig sind. Wer dort arbeitet, muss ertragen, dass sich andere an einem abarbeiten. Ertragen schließt für mich ein: offen austragen, was einem unerträglich ist.
Ich – das ist immer ein anderer. Schrieb der Dichter Arthur Rimbaud. Was weiß ich von mir? Was wissen die anderen von mir? Und was wissen weder die anderen noch ich selbst von mir? Meine jüngste Schwester Ulrike, die aus privaten Gründen nach Westdeutschland ausgereist war, hatte mir 1978 in einem Brief ein Gedicht Wolfgang Borcherts beigelegt. Sie ahnte wohl, dass diese Zeilen mich seit meinem 16. Lebensjahr begleitet hatten. Das Blatt hängt bis heute über meinem Schreibtisch: »Was morgen ist, auch wenn es Sorge ist, ich sage: Ja!« Wieso sollte ich nicht Ja sagen, wo ich doch so viel weniger durchmachen musste als Wolfgang Borchert? Der Autor von »Draußen vor der Tür« sagt Ja, wissend, dass er sich beständig überforderte. Das freilich kenne ich nur zu gut. Ich teile seinen Wunsch, Leuchtturm für andere sein zu wollen, in Nacht und Wind und für jedes Boot – »und bin doch selbst ein Schiff in Not«.
Jeder ist in eine bestimmte Zeit gestellt. Denke ich über meinen Lebensweg nach, steht mir immer deutlicher vor Augen, dass ich von vielen Menschen umgeben bin, die mir zu Leuchttürmen geworden sind. Ihnen widme ich das, was ich an Erinnerungen notiert habe und was ich an Perspektiven skizziere. Solche Leuchttürme richten mich auf und lassen mich »nach oben« sehen. Wer zu Jesus aufschaut, empfängt einen Rückruf: Sieh hin, die Erde!
VATER UND SOHN
Die Briefe meines Vaters an meine Großmutter zeigen ihn als einen Mann, dessen Denken und Fühlen ganz in seiner Zeit verwurzelt war. Im April 1932 forderte er seine Mutter auf, die nationalliberale Deutsche Volkspartei zu wählen, deren prominentester Politiker der 1929 gestorbene Gustav Stresemann war. Zu den Irrwegen seines Denkens zähle ich – rückblickend! –, dass er sich nach der Machtübernahme der NSDAP zeitweilig deren Ideologie angenähert hat. Im Mai 1933 hatte der Student noch über einen gewissen Anpassungszwang berichtet: »Wir mussten nämlich alle in den nationalsozialistischen Studentenbund eintreten. Wenn nicht, dann gibt es keinen Gebührenerlass und keinen Freitisch mehr. Ich soll Scharführer werden, und da waren wir Samstag und Sonntag in Brachwitz zum Exerzieren.« Er bat um 40 Mark für eine SA-Ausrüstung. Im Sommer 1933 besuchte er die SA-Führerschule in Wernigerode. Einige Monate, vielleicht ein Jahr später – das genaue Datum ist unklar –, gab er den Scharführerposten auf.
Er gehörte einer schlagenden Verbindung an. In einem Brief vom Sommer 1934, dem er stolz ein Foto von sich im »Chargenwichs« beilegte, berichtete er: »Im Laufe dieser Woche besichtigen wir das Gefängnis und das Museum der Nationalsozialistischen Revolution. Gestern war Göbbels [sic!] hier in Halle. Wir waren auch auf den Brandbergen. Er hat ganz fabelhaft geredet. 160 000 Menschen waren dort versammelt.« Die Zahlenangabe darf getrost bezweifelt werden. Unzweifelhaft ist, dass mein Vater von den Goebbels’schen Propagandakünsten beeindruckt war. Der Sog der Massen und der Massenbegeisterung hatte ihn wie so viele anfänglich ergriffen.
In den Briefen geht es sehr oft um etwas Geld zum Leben,um Essen und Kleidung, Dinge, an denen es dem Studenten Wilhelm Schorlemmer stetig mangelte. Er berichtete wiederholt über das Studium, über Prüfungen, auch über den »Ariernachweis«, den er zu erbringen hatte. Im November 1934 teilte er seiner Mutter und den beiden Tanten Emma
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