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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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geschrieben. Kaum ein Staat der Welt wurde so gründlich analysiert wie dieses vierzig Jahre dauernde Staatsexperiment mit diktatorischen Mitteln. Das Sezieren begann bereits in dem Moment, da das System endlich verlosch. Was war, darf uns nicht beherrschen, indem unaufhörlich Feindbilder, ja sogar Hass aufrechterhalten oder reanimiert werden. Die seit 1990 dominierende Art der Aufarbeitung stand und steht weiterhin der Versöhnung entgegen. Ich fühlte und fühle mich dem verbunden, was Nelson Mandela nach 23 Jahren Kerker zusammen mit Bischof Tutu in beeindruckenden Ansätzen initiiert hat: Vergebung – nicht ohne Wahrheit; Wahrheit – nicht ohne Versöhnung.
    In diesem Buch steige ich selbst noch einmal hinab in den trockengelegten Brunnen DDR, weil ein Großteil meines Lebens dort stattfand und ich sehr wohl Argumente für eine Freiheit der Loslösung habe, die nichts zu tun hat mit Vergessen oder Verdrängen. Es ist die Freiheit des weiterführenden Gesprächs, das aus dem gestrigen Los Erkenntnismaterial schürft für morgige Lösungen. Keiner kann etwas Sicheres über die Zukunft sagen, aber wir kennen das Gelebte und können mit großer Sicherheit sagen, was wir nicht, was wir nie wieder wollen. Das ist unser Fundus, daraus entstehenEntscheidungen, die vielleicht nicht weniger Irrtum befördern als frühere Taten. Aber ein paar Irrwege dürften vermeidbar sein! Klare, unverstellte Sicht auf die Welt bedeutet zuallererst Einsicht in die Tatsache, dass mit dem Wechsel der Zeiten die alten quälenden, existenziellen Probleme blieben: Hochrüstung, bipolares Denken, Fremdenfeindlichkeit, ideologische Verengung, Machtgier und Machtmissbrauch, Feindbildzimmern und Steinewerfen.
    Ich will einstigen Hoffnungen, Einsichten und Visionen nachsinnen und fragen, was davon unerledigt ist. Ohne eine Leitidee, die in Freiheit angenommen und von Freien gemeinsam getragen wird, hat eine Gesellschaft keine lebenswerte Zukunft. Deshalb lebe, denke, schreibe ich wieder und wieder gegen Gleichgültigkeit, Zynismus und Resignation.
    Die Frage, was Kirche Jesu Christi sein kann, hat mich mein ganzes Leben beschäftigt, und sie treibt mich heute um, zumal die gegenwärtige Kirche hinter ihren Möglichkeiten zurückbleibt und sich oft zeitgeistig, beliebig, eventgierig gibt. Was ich in der Evangelischen Kirche der DDR als einer geduldeten Gegenöffentlichkeit einzubringen versuchte, dokumentiere ich ebenso wie vieles, was ich als Prediger in der wilhelminischen Schlosskirche in Wittenberg habe anregen können.
    Jedem Menschen ist der Mut zu wünschen, sich selbst gegenüber ehrlich zu sein und nicht nur seinen Anteil an der Lösung eines Problems zu benennen, sondern auch zu erkennen, was er zu dessen Verursachung beigetragen hat. Solcher Mut ist möglich, wenn der Mensch um Gnade weiß. Dies ist eine der wertvollsten Gewissheiten. Ich jedenfalls wüsste nicht, wie ich anders leben sollte.
    Beglückt mache ich mir bewusst, wie oft ich in meinem Dasein Bewahrung, Behütung, gute Fügung erfuhr. Ich wundere mich, dass ich noch immer am Leben bin. Ich erschrecke, wie oft ich am Abgrund vorbeischlitterte. Längst gestorbeneFreunde und Lehrer ziehen an meinen Augen vorüber – wie eine »Wolke der Zeugen«. Auch Beziehungen, die abgebrochen wurden, erkaltet, erloschen sind oder sich im Wirbel wechselnder Zeiten, Orte und Umstände verloren, werden nun, da ich schreibend mein Leben bedenke, wieder lebendig. Was oder wer in diesem Buch keine Erwähnung findet, ist dennoch nicht aus meinen Gedanken und Gefühlen gelöscht. Privates soll privat, im Vertrauen Anvertrautes vertraulich bleiben. Wahrhaftigkeit setzt nicht die Kunst außer Recht, Vorhänge zu platzieren, wo ich sie für angemessen und anständig erachte.
    »Je mehr man über die faktische Wahrheit hinausgeht, desto spürbarer werden die Schwierigkeiten des Mitteilens und Verstehens«, schrieb Siegfried Lenz 1964. Spruch trifft auf Widerspruch. Lenz erinnert an die Weisheit der Kabbala: »In ihr ist die Wahrheit das, was sich geziemend widerspricht … Diese Wahrheit … liegt im Aufblitzen eines emporgerissenen Messers, in der pfeilschnellen Berührung der Schwalbe mit dem Wasser. Sie ist in einer einzigen Sekunde gewonnen und wieder verloren.« 1
    Worin besteht sie also, die Wahrheit eines Menschen? Wie viele gegensätzlich konturierte Bilder er doch in anderen erzeugt – auch wenn er selber zweifelsfrei meint, ganz klar und eindeutig zu sein. An jedem besseren

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