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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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nähebetont, sondern verehrend und ermutigt.
    Der Holzschnitt »Ein Prophet« von Emil Nolde begleitet mich seit meinem 16. Lebensjahr. Ich hatte ihn von einer Postkarte abfotografiert, vergrößert und auf ein Brett geklebt. Zumeinen »Propheten« zähle ich auch Martin Luther King, Wolfgang Borchert, Ernesto Cardenal, Dorothee Sölle. Und Hilde Domin! »Dennoch-Sagen« war die Lebensmaxime dieser kleinen Frau und großen Dichterin, die einem ihrer Bücher den Titel »Aber die Hoffnung« gab – und die nach ihrer Erfahrung mit Hitlers Deutschland lebenslang das Veronal in der Handtasche behielt.
    Klar sehen und doch hoffen. Das ist Lebenskunst schlechthin. Man zeige mir freilich einen, der diese Kunst durchgängig hat leben können. In ständiger Balance zwischen Skepsis und Sehnsucht, sodass eines das andere aufhebt, ja -wiegt. Immer stehen sich die Kräfte mit Eigenmacht gegenüber; die eine wirft sich im Übermaß der Entgegnung auf die Angebote der anderen, auf das Schwarz der nüchternsten Erkenntnis antwortet die farbigste Droge des Wünschens. Der Mensch, ein Zerrissener zwischen den Gemütslagen, zwischen Abgrund und Wolken schwebend, zwischen Optionen in Überfülle und totaler Alternativlosigkeit. Jedes der späten Lebensjahre nimmt dir ein Gran Traumkraft und verstrickt dich zugleich in das tragische Empfinden, dass just jetzt – da die Begehrlichkeiten des einst prallen Lebens abfallen wie eine Last – des Traumes schönste, ungezwungenste Zeit sein könnte. Nunmehr, da ohnehin aus naturgegebenen Umständen das Erfüllbare nicht mehr das Erstrebenswerteste ist, könnte die Hoffnung etwas freier, unbelasteter, fast wieder jugendlich durch den Sinn schwirren. Aber ihr steht ein gewachsener, gehärteter Wirklichkeitssinn gegenüber, der nur noch kalte Rechnungen aufmacht und auf die ablaufende Uhr zeigt. Ich sehe tieftraurig auf die UNO-Klimakonferenz in Durban zurück. Sollte kollektive Einsicht auf dem Globus nie mehr greifen?
    Bald nach meinem Wechsel 1978 aus der Stadt des Raben in die Stadt des Schwans – also von Merseburg nach Wittenberg – entdeckte ich das Konterfei Martin Luthers am Katharinenportal.Der Steinmetz hatte es über einem der Türsitze eingemeißelt mit einer Umschrift, die als ein Lebensmotto Luthers gilt: »Im Stillesein und Hoffen wird eure Stärke sein.« Stillesein bedeutet hier nicht, in sich gekrümmt die Klappe zu halten, aus Angst, ein falsches Wort zu sagen, sondern ganz konzentriert sein, genau hinschauen und ganz gelassen sein – so wird Stärke auf den Menschen zukommen. So wird Glauben zu einem der Zukunft geöffneten Dasein. In diesem Sinne habe ich versucht zu leben und zu widerstehen – bei allem Versagen und Verzagen, in Zeiten tiefer Müdigkeit, des Zweifelns, des Verzweifelns und der Selbstzweifel. Zu widerstehen galt es der Welt und mitunter auch mir selber. Der Weckruf meines Vaters hat mich geleitet und begleitet: »Friedrich, steh auf!«
BLICK ZURÜCK OHNE ZORN – ERINNERUNGEN UND PERSPEKTIVEN
    Erinnerung erfindet. Denn die Vergangenheit legt sich nicht selber ab in einen Ordner, darin man das Gewesene, all das Wirkliche und Wahre nachschlagen kann. Wer sich an sein Leben erinnert, kann auf nichts Befestigtes, nunmehr Unantastbares zurückgreifen, er rekapituliert und fabuliert gleichermaßen, er steht somit unweigerlich zwischen Archäologie und kleiner Weltengründung. Noch im Denken an entfernteste biografische Einzelheiten hört die Selbstsuche im Gegenwärtigen nicht auf. Die Zeit haut nichts in Stein, das man sich von allen Seiten betrachten könnte. Alles steht nur gefiltert zur Verfügung – Daten und Fakten, Personen und Ereignisse.
    Zur Freude darüber, dass sich meine Erinnerungen mit Erfahrungen anderer Menschen decken, kommt das Glück, manch Aufgerufenes ergänzt, bereichert zu wissen durch fremde Wahrnehmungen. So paradox es klingen mag: DerBlick zurück lebt von der Freiheit, offenzulassen, wie etwas wirklich geschah. Es handelt sich um jene Offenheit, die ins Heute zielt. Erinnern geht nicht der Frage nach, wie etwas war, sondern forscht mit dem Material des Vergangenen nach dem, was ist.
    Vergangenheit lebt. Aber dieser Satz widerspricht keinesfalls jenem Satz, der mir ebenso wichtig ist, vor allem in Bezug auf die Auseinandersetzung mit der DDR: Man muss Vergangenheit irgendwann auch Vergangenheit sein lassen. Warum können wir die DDR nicht endlich im Grabe lassen, statt sie permanent zu exhumieren? Alle Nachrufe sind inzwischen

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