Klar sehen und doch hoffen
fortzuscheuchen mit der Erklärung, dass der Ofen kaputt sei. Er hängt auch ziemlich windschief im Zimmer. Da fängt sie auf einmal an zu plärren, als Franz nach Sachen sucht, um einen Ofen zusammenzubringen. Auf den Dachboden hängen noch drei Gurri. Unter einem Steinhaufen, den wir forträumen, als Ofenunterlage eine Truhe. Sie plärrt wieder und versucht uns wegzudrängen. Wäsche ist drin. Als sie merkt, dass wir weder ihre Wäsche noch ihre Gurri wollen, wird sie wieder ruhig. Ohne Aufforderung wäscht sie jetzt unser Kochgeschirre, hilft beim Holzsägen, schleppt Steine zum Ofenbau ran und ist gar nicht mehr krank. Am zerbrochenen Eisenofen – Ziegelsteine als Unterlage – ein alter Blechkanister als Esse, und bald brennt, wenn auch zuerst etwas qualmend, unser Ofen.
Aschermittwoch, 18. 02. 1942
Im Osten nicht Neues.
Ich bewundere an meinem Vater, dass er seine Erfahrungen ohne erkennbare innere Zensur aufgeschrieben und das Tagebuchstets bei sich getragen hat. Ich stelle mir vor, dem SD oder der Gestapo wären diese Berichte in die Hände gefallen. Ich wäre wohl gar nicht geboren worden. Er hat uns Kindern oft und viel von seinen Kriegserlebnissen erzählt. In Erinnerung war mir geblieben, dass er zu den Truppen gehörte, die bis nahe Moskau vorgedrungen waren. Die unglaubliche Kälte habe er dank der Öfen in den Holzhütten überlebt, auch dank der Gütigkeit russischer Babuschkas, die den Feinden und Zerstörern des Landes als Menschen freundlich begegnet waren, sie anfangs gar mit Begeisterung gefeiert hatten. Sehr bald begann die rassistische Unterdrückungs- und Vernichtungsorgie. Einen Partisanen, der mit Sprengstoffpaketen nächtens zum deutschen Militärlager unterwegs gewesen war, hatte mein Vater als Wachtposten gestellt und dafür das Ritterkreuz 2. Klasse bekommen. Die Frage, was aus diesem Russen geworden ist, hat ihn nicht mehr losgelassen.
Einen Nierenschuss hat er 1942 ganz knapp überlebt. Das hat ihm letztlich das Leben gerettet, denn nach seiner Genesung wurde er in die Etappe nach Frankreich beordert.
Für die Hochzeit mit der Medizinstudentin Anne Haack bekam er im August 1943 Fronturlaub. Nach neun Monaten wurde ich geboren.
Mein Vater hat selber nie schießen müssen. Schwerverwundete hat er behandelt, Sterbende begleitet, Angehörigen in persönlichen Briefen die Todesnachricht übermittelt. Über das, was der Krieg aus Menschen macht, unter welchen Befehlen deutsche Soldaten Grausiges unter der Zivilbevölkerung angerichtet haben, hat er nicht hinweggesehen, davon hat er nichts ausgeblendet. In seinen beiden letzten Lebensjahrzehnten las er fast ausschließlich Literatur über den Zweiten Weltkrieg. Das war das Lebensthema, mit dem er – bis zu seinem Ende – nicht fertig geworden ist.
Ich bin dankbar, dass ich einen Vater und sechs Geschwisterhaben durfte. Die meisten meiner Schulkameraden wuchsen nicht nur ohne Väter auf, oft wurden die Väter auch noch beschwiegen, weil sie sich als aktive Nazis hervorgetan hatten.
Ich habe den Wehrdienst verweigert, weil ich keinesfalls einen Fahneneid sprechen konnte, der in der Grundstruktur dem Eid glich, den mein Vater abgelegt hatte. »Unbedingter Gehorsam« mit Selbstverfluchungsklausel. Niemals! Aber ich gehöre nicht zu denen, die den roten Militarismus der DDR, den totalitären Staat und die kommunistische Ideologie auf eine Stufe stellen zu können meinen mit dem, was in deutschem Namen und von Deutschen im Nationalsozialismus angerichtet worden war. Ich wurde Pazifist aus politischen Gründen, aus Gewissensgründen, auch im Gedenken an meinen Großvater, der schon im ersten Kriegsmonat 1914 als vermisst gemeldet worden war. Meinem vaterlos aufgewachsenen Vater kamen die Tränen, als er mir in meinem 14. Lebensjahr das Schlusskapitel aus »Im Westen nichts Neues« vorgelesen hat. In seinem Kriegstagebuch heißt es mehrfach in ironischem Anklang »Im Osten nichts Neues«.
Mein Vater schrieb genau vier Wochen nach meiner Geburt an meine Mutter, voller Sehnsucht nach seinem Erstgeborenen, sich selbst fragend:
»Wirst du nicht richtig ein bisschen eifersüchtig auf den kleinen Kurfürst, da er noch mit ernstem, nachdenklichem Professorengesicht im Wagen liegt? …
Wie kann er dort aufwachsen, zwischen dem Blühen, all dem Duft des Vorsommers? Seine kleinen Äuglein sehen die alte Tanne und begreifen es noch nicht, was für ein Ding das ist. Noch gehört er ja Dir mit all seinen Lebensäußerungen und Begierden.
Wie wird
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