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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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er wohl seinen Vati anschauen, wenn er mal kommt?
    Wir wollen einmal vernünftig in die Zukunft blicken. Ich hätte gern für Dich und das Kind eine Rentenversicherung abgeschlossen.Kannst du da mal Schritte unternehmen? Such doch mal mit der Allianzgesellschaft eine Verbindung … «
    Mit Eltern und Geschwistern in Herzfelde, 1950
    Im Juli 1944 teilte er ihr aus dem Lazarett in einem Kloster mit:
    » Meine Gedanken kommen mir besonders bei dem abendlichen kurzen Gang durch den Klostergarten. Im nächsten Monat muss nun der Junge getauft werden, sonst wird mir der kleine Heide zu alt.
    Ich kann nicht genug von ihm hören. Denn dann bin ich immer wieder bei euch, ganz nah in dem alten Haus, und wenn ich dann die Kletterrosen vor mir sehe, wünsche ich mir, dass solche auch an unserer Haustür wachsen sollen. Wie schön, denn dann wäre der Dornröschenschlaf eigentlich erst vollkommen.
    Ein ganz klein wenig könnte ich Dich beneiden – dort im Herzfelder Frieden mit unserem Jungen.
    Genieße nur das Glück deines jungen Mutterseins und lass es Dir nicht allzu sehr trüben von dem Gedanken, dass einer fehlt, der doch mit seinem Herzen dabei ist. Und wo unser Herz ist, da leben wir ja eigentlich in dieser Welt.
    Wie viel Liebes möchte man euch sagen, am Bettchen sitzen mit Dir und nicht zu sprechen, nur das kleine Wurm anschauen. Wenn Du über unserem Kind betest, wirst Du auch an mich denken. «
    Vater sein, Kind sein, Poesie des Gartens – und nüchterne Sorge für die Zukunft in düsterer Zeit: Allianzversicherung. Gerade wer sich poetisch erhebt, muss geerdet bleiben.
    Dieser Sanitätsobergefreite Wilhelm Schorlemmer kehrte 1946 aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft in die SBZ zurück und wurde zum Arbeitseinsatz in Leuna/Merseburg verpflichtet, ehe er die Familie wiedersehen konnte, die im altmärkischen Dorf Herzfelde lebte. Ich musste mich als Zweijähriger erst an meinen Vater, den »Onkel Vati«, gewöhnen. Er erklärte mir, was ich nicht verstand. Warum fremdsprechende Soldaten hier waren, warum die Stadt Magdeburg so schwarz und voller Ruinen war, wer Stalin war, wer Niemöller war, was KZs waren, warum Kommunisten herrschten und was Kommunisten waren. Er erklärte mir die Welt. Er las mir (und später auch meinen jüngeren Geschwistern) viel vor.
    Als 1970 unsere Tochter Uta geboren wurde und ich sie vier Wochen lang nur durch eine Scheibe sehen durfte, erahnte ich, welche Sehnsucht mein Vater gehabt haben muss, als noch nicht klar war, wie lange der Krieg dauern und was aus Deutschland werden würde. Meine Mutter starb 1971 nur 49-jährig an Krebs, und mein Vater fand Trost mit der Enkeltochter auf einer Gartenwiese liegend und außerhalb des Laufgitters spielend. Er sagte noch Jahre später stolz: »Ich habe ihr die Freiheit gezeigt.« Ein Leben ohne Gitter!
BLEIBE IM LANDE UND WEHRE DICH TÄGLICH
    Der Blick zurück in die DDR trägt vielfach verdüsterte Züge. Mit der Entfernung von jenem abgeschlossenen geschichtlichen Zeitabschnitt wachsen nicht nur Desinteresse und Unkundigkeit der Jüngeren (eine natürliche Begleiterscheinung aller Geschichte), sondern offenkundig auch die Eintrübungen in der Erinnerung vieler, die maßgebliche Teile ihres Lebens in der DDR verbrachten. Das Gedächtnis zahlreicher Menschen suggeriert – und dies steigerte sich in den letzten Jahren zweifelsfrei zu einem Haupterzählstrang –, Widerstand gegen das SED-Regime sei überhaupt nicht möglich, weil gar zu gefährlich gewesen, schon jedes frei geäußerte Wort habe sämtliche Lebensmöglichkeiten gekostet. Man beschreibt die DDR als weit schlimmer, um plausibel zu begründen, dass man zu denen gehörte, die sich tatenlos angepasst haben. Mitläuferschaft? Nein, wehrt man ab: Nichts war Charakter, alles Zwang.
    Bautzen und Waldheim, die Orte staatlicher Justizbrutalität und gnadenloser Strafpraxis, sind seit meiner Jugend stehende Begriffe für politische Willkürherrschaft gewesen. Einstige »politische Häftlinge«, aber auch aufmüpfige Bürgerrechtler (aus kleinen oppositionellen Gruppen, meistens unter dem Dach der evangelischen Kirchen) verkörpern das leibhaftige schlechte Gewissen jener, die sich der Einschüchterung durch die Herrschenden brav gebeugt hatten und deren Handeln nicht von ihrer Courage und Denkkraft bestimmt wurde, sondern von ständiger Angst.
    Von Kindheit an bin ich von Ausreden und Selbstentschuldigungen umgeben gewesen. Das SED-System hat dieses Lebensrezept raffiniert genährt. Da die

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