Klassentreffen (German Edition)
hatte Claudia recht. Bis sie Thomas kennengelernt hatte, hatte sie sich nichts aus Männern gemacht. Beim Anblick ihrer Deutschlehrerin hatte sie allerdings feuchte Finger bekommen. Und Franzi . . . Eine Gänsehaut lief ihr den Rücken hinunter, als sie an den ersten Kuss dachte. »Mit Thomas . . . Ich weiß auch nicht. Im Nachhinein kann ich mir nicht erklären, was mich zu ihm hingezogen hat. Im Vergleich zu dem, was ich für Franzi empfinde, kann es keine Liebe gewesen sein.«
»Ich glaube, es waren einfach die Erwartungen unserer Eltern, die dich dazu gebracht haben, Thomas zu heiraten.«
»Vielleicht.« Meike schloss die Augen. Sie seufzte tief.
»Im Gegensatz zu mir hast du ja immer viel Wert darauf gelegt, dass Papa mit deinen Entscheidungen zufrieden ist. Aber . . .« Claudia legte ihre Hände auf Meikes Schultern. »Ich habe dich in der ganzen Zeit mit Thomas nicht so glücklich erlebt wie mit Franzi. Und das ist doch das Wichtigste, dass du glücklich bist. Denk an dich.«
Meike atmete tief durch. »Du hast recht. Mit Franzi war ich unendlich glücklich.«
»Dann genieß deine Gefühle und deine Liebe.«
»Aber . . .«, stammelte Meike, »Franzi will mich ja nicht mehr. Und das kann ich verstehen.« Schon wieder sammelte sich Feuchtigkeit hinter ihren Lidern.
»Selbst wenn Franzi dich nicht mehr will – sie ist nicht die einzige Frau auf dieser Welt. Im Übrigen glaube ich nicht, dass Franzi dich einfach aufgibt. Dann wäre sie schön blöd.« Claudia lächelte. »Den ersten Schritt hast du ja jetzt gemacht.«
»Ja, und du kannst dir gar nicht vorstellen, wie befreiend es war.«
»Dann mach weiter. Du musst es ja nicht unbedingt als nächstes Papa auf die Nase binden, aber erzähl deinen Freunden oder deinen Kollegen, dass du lesbisch bist. Oder willst du dich für immer verstecken?«
Meike schüttelte den Kopf. »Nein, das möchte ich nicht.« Ein leises Unbehagen zwickte sie immer noch, wenn sie an die bevorstehenden Gespräche dachte. War sie mutig genug, den Weg, den sie jetzt einmal beschritten hatte, weiterzugehen? Aber sie musste – es gab kein Zurück mehr, und das sollte es auch nicht. Alle ihr wichtigen Menschen sollten von ihrer Liebe zu Frauen erfahren. Sonst würde sie für immer unglücklich bleiben, das war ihr jetzt klar. »Danke, Claudi. Du bist die Beste.«
Claudia schmunzelte. »Jetzt übertreib nicht. Aber gern geschehen.« Sie zwinkerte Meike zu. »Und wenn du das nächste Mal ein Problem hast, wendest du dich sofort an deine Schwester, verstanden?«
Meike nickte. »Verstanden.«
»Gut, dann lass ich dich mal wieder allein.«
»Weswegen hattest du eigentlich heute Morgen angerufen?«
»Ach so, ich wollte dich fragen, ob du morgen zu Mama und Papa zum Essen kommst. Aber angesichts deines Zustandes würde ich mal sagen, dass du besser zu Hause bleibst.«
»Ja, das werde ich auch.«
Nachdem Claudia gegangen war, musste Meike das Gespräch erst einmal verdauen. Warum nur war sie so lange so feige gewesen? Am Ende war es überhaupt nicht schlimm gewesen. Claudia hatte ihr nicht den Kopf abgerissen, sie hatte sie nicht im Geringsten verachtet.
Im Gegenteil – Claudia hatte schon lange geahnt, dass sie lesbisch war. Meike konnte es nicht fassen. Sie selbst hatte ewig gebraucht, es zu erkennen, dabei war es schon lange so offensichtlich gewesen.
Lesbisch. Meike ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. Es hörte sich in ihren Ohren noch immer komisch an.
War sie denn wirklich lesbisch? Oder war Franzi nur eine Ausnahme? Meike konnte nicht verhindern, dass diese Fragen reflexartig wieder auftauchten.
Sie ließ noch einmal Revue passieren, was ihre Schwester ihr gesagt hatte. Es hatte immer wieder Frauen oder Mädchen in Meikes Leben gegeben, für die sie geschwärmt hatte. Sie selbst hatte dem keine Bedeutung beigemessen. Natürlich hatte sie ihre Deutschlehrerin toll gefunden, die Stunden damit zugebracht, sie anzustarren – und das nicht, weil der Stoff so spannend war. Manchmal hatte sie sogar von ihr geträumt. Meike hatte sich nie gefragt, ob das normal war; für sie war es das gewesen. Aber es hatte sie nie dazu bewogen, ihre Heterosexualität in Zweifel zu ziehen. Selbst in der Zeit mit Thomas . . . Damals hatte es eine Kommilitonin gegeben, zu der Meike sich hingezogen gefühlt hatte. Ständig hatte sie ihre Nähe gesucht, die gleichen Seminare belegt wie sie, in jeder Vorlesung neben ihr gesessen. Sie hatte so gut gerochen. Wenn es um
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