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Klassentreffen

Titel: Klassentreffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Vlugt
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meiste so fremd vor, als hätte ich die Zeit damals gar nicht miterlebt. Und trotzdem kann es sein, dass mich plötzlich eine Erinnerung durchzuckt, ein Gedankenblitz meine graue Hirnmasse grell aufleuchten lässt. Ich habe keine Ahnung, wie so was zustande kommt. Ich weiß nicht, wie das Gedächtnis funktioniert, und noch weniger, warum es einen manchmal so schmählich im Stich lässt, um einen dann wieder mit unerwünschten Erinnerungen zu konfrontieren.
    Der Erinnerungsfetzen, der auftaucht, als Olaf Isabels Namen nennt, ist alles andere als angenehm. Ich sehe mich im Aufenthaltsraum nach einem Platz suchen, an dem ich mein Pausenbrot essen kann. Ein Stück von mir entfernt haben sich mehrere Klassenkameradinnen niedergelassen. Isabel sitzt auf der Tischkante und führt das große Wort. Ich bin zwölf, und vor nicht allzu langer Zeit habe ich noch dazugehört, bis ich immer weiter an den Rand gedrängt und schließlich verstoßen wurde. Ich nehme mir einen Stuhl und gehe damit zu der Clique hinüber. Sie schauen nicht her, aber ich merke, dass sie Blicke tauschen. Die Gruppe scheint sich in einem Magnetfeld zu befinden, das Alarm schlägt, sobald ich es betrete.
    Ich will gerade meinen Stuhl zu den anderen stellen, als die Lehnen aneinander klacken und Stuhlbeine über den Boden schrappen – die Reihen schließen sich. Ich setze mich
an einen leeren Tisch in der Nähe, starre die Wanduhr an und zähle die Minuten, bis die Pause vorbei ist.
    Ein einziges Mal begegnet mein Blick dem von Isabel. Sie wendet die Augen nicht ab, sondern guckt einfach durch mich hindurch.
    »Sie war doch deine Freundin, nicht wahr?« Olaf nimmt einen Schluck Bier und sieht mich fragend an.
    »Isabel? Ja, in der Grundschule schon«, sage ich, ziehe an meiner Zigarette und inhaliere tief.
    »Man weiß noch immer nicht, was mit ihr passiert ist, stimmt’s?«, sagt Olaf. Das ist keine Frage, eher eine Feststellung, aber ich antworte trotzdem.
    »Nein. Ihr Fall ist erst neulich in Vermisst! wieder aufgerollt worden.«
    »Shit« , sagt Olaf. »Was, glaubst du, könnte mit ihr passiert sein? Hatte sie nicht irgendeine Krankheit?«
    »Epilepsie.« Bilder aus der Vergangenheit stürmen auf mich ein. Ich versuche sie aufzuhalten, abzublocken, aber Olaf redet weiter.
    »Stimmt, Epilepsie. Könnte ihr Verschwinden vielleicht damit zusammenhängen? Meinst du, sie hatte einen Anfall?«
    »Eher nicht. Ein Anfall geht ja wieder vorbei. Man spürt, dass er kommt, und wenn er vorbei ist, muss man sich ein Weilchen erholen. Zumindest bei leichten Anfällen ist das so. Ich kenne mich aus, ich war ja oft dabei, wenn Isabel Anfälle hatte.«
    »Du glaubst also nicht, dass die Epilepsie etwas mit ihrem Verschwinden zu tun hat?«
    Ich mache dem Kellner ein Zeichen, dass ich noch ein Bier möchte, und schüttle dann den Kopf. Das glaube ich nicht, habe ich nie geglaubt.
    »Weißt du«, sage ich, »ich kann mich kaum noch an die Zeit erinnern. Seltsam, nicht? Ich meine, ich müsste doch
eigentlich noch wissen, wie das war, als ich mitbekam, dass Isabel nicht nach Hause gekommen ist. Ihre Mutter hat offenbar bei uns angerufen. Und am nächsten Tag sind ihre Eltern sogar vorbeigekommen, um mit mir zu reden; sie hatten gehofft, ich könnte ihnen mehr dazu sagen. Es war ja das große Thema damals, in der Schule und auch in den Medien, aber ich weiß das alles nur vom Hörensagen. Erinnern kann ich mich an kaum etwas.«
    Olaf sieht mich skeptisch an. »Das gibt’s doch nicht. An irgendwas erinnerst du dich bestimmt.«
    »Nein.«
    »Aber in der Schule haben doch damals alle darüber geredet!«
    »Kann sein, aber ich weiß es einfach nicht mehr. Vielleicht wird mir deshalb immer so komisch, wenn ich an früher denke: Ich glaube, ich habe was Wichtiges vergessen. Man kennt das: Anfangs scheint es nur ein unbedeutendes Detail zu sein, aber später erweist es sich als das fehlende Puzzlestück. Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich damals mehr wusste, als mir klar war. Aber jetzt ist alles weg, wie ausgelöscht.«
    Olaf streut noch etwas Puderzucker auf seine Poffertjes. »Wolltest du deshalb nach Den Helder?«
    »Ja. Ich hatte gehofft, dass mir das mehr Klarheit bringen würde, aber dem war nicht so. Es ist einfach zu lange her«, seufze ich.
    Olaf schiebt sich fünf Poffertjes auf einmal in den Mund.
    »Vielleicht hattest du einen Schock und hast die erste Zeit irgendwie neben dir gestanden. Das wär nur verständlich, schließlich war Isabel mal deine beste

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