Klassentreffen
Freundin. So was lässt einen doch nicht kalt.«
Nachdenklich pikse ich meine Gabel in ein abgekühltes, klebriges Poffertje. Hat Isabels Verschwinden mich kalt gelassen?
»Voriges Jahr, kurz nachdem ich krank geworden bin, hab ich meine Mutter gefragt, wie ich auf Isabels Verschwinden reagiert habe«, sage ich. »Sie konnte mir aber wenig dazu sagen. Als Isabel verschwand, lag mein Vater mit einem Herzinfarkt in der Klinik, da hatte sie andere Sorgen.«
Olafs hellblaue Augen blicken mich ernst an.
»Meine Mutter hat anfangs vermutet, dass Isabel von zu Hause weggelaufen ist«, fahre ich fort. »Sie hatte oft ältere Freunde, sogar in Amsterdam. Keine Ahnung, wie sie an die gekommen ist. Vielleicht ist sie ja tatsächlich weggelaufen.«
»Glaubst du wirklich?«
Ich denke kurz nach und schüttle dann den Kopf. »Nein. Warum sollte sie? Ihre Eltern haben ihr alle Freiheiten gelassen. Manchmal etwas zu viele, so sahen das jedenfalls meine Eltern. Insgeheim waren sie wohl froh, als wir nicht mehr befreundet waren. Isabel durfte selbst entscheiden, wie oft sie mit wem wie lange ausging. Ihre Eltern waren auch nicht so dahinter her, dass sie ihre Hausaufgaben machte, so wie meine. Sie ließen sie mit irgendwelchen dubiosen Freunden in Amsterdam durch die Kneipen ziehen. So Sachen eben. Meine Mutter meinte, es wundere sie absolut nicht, dass ausgerechnet Isabel etwas zugestoßen ist. Sie hat immer gesagt, dass ihr in Amsterdam irgendwann noch mal was passieren wird.«
»Aber das kann nicht sein«, sagt Olaf. »Sie ist doch in Den Helder verschwunden, und zwar am helllichten Tag, direkt nach der Schule.«
Ich sehe ihn an, verwundert, dass er das alles noch so genau weiß.
»Stimmt. Ich weiß noch, dass ich hinter ihr hergefahren bin. Sie war mit Mirjam Visser unterwegs, und als die abbog, fuhr Isabel allein weiter. Ich musste in die gleiche Richtung, aber ich fuhr ganz langsam, weil ich nicht wollte, dass sie
mich sieht. Irgendwann bin ich dann in eine Seitenstraße eingebogen, um ihr nicht zu begegnen. Ich bin durch die Dünen nach Hause gefahren. Es war sehr windig, und ich musste ordentlich in die Pedale treten. Als ich zu Hause ankam, war ich total außer Atem. Komisch, nicht wahr, dass ich mir ausgerechnet das gemerkt habe. Was an dem Tag sonst noch passiert ist … keine Ahnung. Wahrscheinlich war ich in der Bibliothek oder hab Hausaufgaben gemacht.«
»Und am nächsten Tag und danach? Als sich herausstellte, dass Isabel wirklich verschwunden war? Das war doch Tagesgespräch in der Schule!«, sagt Olaf erstaunt.
»Daran kann ich mich nicht erinnern. Es ist, als hätte ich eine Gedächtnislücke. Ab und zu kommt was hoch, aber das ist dann gleich wieder weg«, sage ich hilflos.
»Hmmm.« Olaf lehnt sich zurück und zündet sich die nächste Zigarette an. Er bietet mir auch eine an, aber ich lehne ab.
Lange bleibt es still zwischen uns. Mit großen Schlucken trinke ich mein Bier. Gesprächspausen bin ich nicht gewöhnt, ich kann nicht gut damit umgehen, obwohl Olafs Schweigen nicht unangenehm ist. Er erwartet keine Erklärungen, keine endlosen Herzensergüsse, und ich mache nicht den Fehler, draufloszuquatschen. Er sagt nichts, und ich schweige ebenfalls.
So sitzen wir zusammen, während er seine Zigarette raucht und ich mir dann doch noch eine stibitze. Manchmal macht eine Zigarette im richtigen Moment ganz schön was aus.
»Hast du Isabel gut gekannt?«, frage ich, als ich die Asche abstreife.
»Nur aus der Kneipe. Später hab ich sie auch in der Schule gesehen und auf dem Pausenhof hin und wieder mal mit ihr gesprochen. Robin hatte mir erzählt, dass ihr früher Freundinnen
wart. Aber das muss gewesen sein, bevor ich öfter bei euch war, denn Isabel hab ich da nie gesehen.«
»Stimmt. Damals war es mit der Freundschaft schon vorbei«, sage ich.
Olaf mustert mich. Er sagt nichts, sieht mir nur in die Augen – eine gute Methode, andere nervös zu machen und so zum Weiterreden zu bringen.
»Die letzten Schuljahre waren ganz okay. Aber davor, in der Mittelstufe, war’s grauenhaft«, plappere ich drauflos. »Ich habe mich danach sehr verändert, bin aufgeschlossener geworden, und niemand ist mir mehr auf der Nase herumgetanzt. Eine ganz andere Sabine. Mein zweites Ich. Das glaubt man gar nicht, stimmt’s? So hast du mich nie gekannt. Weiß du, manchmal habe ich das Gefühl, aus mehreren Personen zu bestehen. Aus lauter unterschiedlichen Persönlichkeiten, die ohne mein Zutun auftauchen.«
Was rede
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