Klassentreffen
das war damals schon ein Riesenakt für mich.
Regelrecht peinlich wird es, als Jeanine meinen Kleiderschrank aufmacht und den Stapel ausgeleierter Slips sieht. Zwei weiße BHs, das heißt, sie waren mal weiß, liegen vereint daneben. An den verschlissenen Stellen gucken die Drahtbügel raus.
»Was ist denn das ?«, fragt Jeanine schockiert.
Ich erkläre ihr, dass das meine BHs und meine Slips sind.
Jeanine rümpft voller Abscheu die Nase. »Das«, sagt sie mit Nachdruck, »sind Unterhosen. Keine Slips. Du hattest Recht: Du brauchst dringend Hilfe. Wirf das Zeug weg; wir gehen einkaufen.«
Draußen scheint die Sonne. Ich sehe junge Frauen in farbenfrohen Röcken mit Kräuselsaum und Tops mit Spaghettiträgern, und auf einmal kriege ich ungeheure Lust, mir eine komplett neue Garderobe zuzulegen.
Ich habe ein erwartungsvolles Kribbeln im Bauch, als ich neben Jeanine in der Linie 13 zum Dam sitze. Ich bin verabredet und ich habe sogar eine Freundin, mit der ich shoppen gehe: Jetzt gehöre ich wieder dazu! Mein Gott, was fährt die Straßenbahn langsam! Muss die denn wirklich bei jeder Haltestelle anhalten? Ich will einkaufen!
Am Nieuwezijds Voorburgwal steigen wir endlich aus und mischen uns unter die Menge in der Kalverstraat.
Wie lange war ich nicht mehr hier! Wann habe ich bloß das Interesse an meinem Aussehen verloren? Wie konnte das nur passieren?
»Erst die Dessous«, beschließt Jeanine und zieht mich in ein Wäschegeschäft. »Das ist das Wichtigste.«
Jeanine greift nach einem Bügel, an dem meiner Meinung nach nur ein paar hauchdünne Streifchen Spitze hängen, die sich bei genauerem Hinsehen jedoch als winziger Slip mit passendem BH entpuppen
»Das!«, sagt sie entzückt. »Das musst du nehmen. Und das hier auch!« Schon hat sie ein durchscheinendes rosafarbenes Negligé in der Hand. Ich betrachte es skeptisch.
»Ist das nicht ein bisschen nuttig?«, frage ich.
»Das nennt man sexy!«, korrigiert mich Jeanine freundlich. »Probier’s mal an. Solche Sachen muss man angezogen sehen.« Sie bugsiert mich in eine Ankleidekabine, und während ich mich ausziehe und vorsichtig in das Negligé schlüpfe, wirft sie noch ein paar BH-Sets herein. Kurz darauf kommt sie selbst durch den Vorhang und fragt neugierig: »Und? Passt es?«
Ich betrachte mich im Spiegel und sehe ein pastellfarbenes Betthäschen. »Ich weiß nicht recht, Jeanine. Das bin nicht ich«, sage ich unsicher.
»Quatsch. Man zieht sich nicht so an, wie man ist, sondern so, wie man sein will. Das steht dir ausgezeichnet, Sabine. Du musst es nehmen, unbedingt. Das hängst du auf keinen Fall zurück! Nimm eine Beruhigungspille und zahl jetzt«, drängt sie.
Wir gehen von einem Laden in den nächsten und kaufen ein, was das Zeug hält. Auf der Straße schneiden mir die Henkel der Plastiktüten schmerzhaft in die Hände.
Gegen sechs steigen wir hundemüde in die Straßenbahn.
»Ich fahr gleich nach Hause, ich kann nicht mehr«, sagt Jeanine, als wir vor meiner Tür stehen. »Bin ich froh, dass ich heute Abend nichts mehr vorhabe.«
»Ich kann auch nicht mehr«, stöhne ich.
»Geh unter die Dusche und massier dir die Füße, dann geht’s schon wieder«, rät sie. »Und ruf mich morgen unbedingt an. Ich will alles wissen.«
Wir verabschieden uns, und ich schleppe mich mit bleischweren Füßen in die erste Etage. Weil mir die vielen Tüten im Weg sind, schließe ich umständlich auf, lasse meine Einkäufe im Flur fallen und werfe die Tür hinter mir zu. Ich ziehe die Schuhe aus und sinke fix und fertig aufs Sofa. Mit festem Druck massiere ich mir die Füße, und als ich das Gefühl habe, dass sie mich wieder tragen, gehe ich ins Badezimmer. Eine warme Dusche, genau das brauche ich jetzt.
Danach fühle ich mich wieder einigermaßen fit. Nackt gehe ich in den Flur, sammle die Einkaufstüten auf und trage alles ins Schlafzimmer. Ich schneide sorgfältig die Preisschilder von den Dessous, Röcken und Tops und probiere alles
noch mal an. Ich nehme eine selbstbewusste Haltung ein, lege die Hände auf die Speckröllchen und bin trotzdem mit dem Resultat ganz zufrieden.
Eilig föhne ich meine frisch gewaschenen, nach Shampoo duftenden Haare und stecke sie hoch. Ich bin noch mit meinem Make-up beschäftigt, als draußen laut gehupt wird.
KAPITEL 10
Ich ignoriere den Lärm, trage sorgfältig Wimperntusche auf und lege meine Kristallohrstecker an.
Wieder hupt es. Ich runzle die Stirn, gehe zum offenen Fenster und lehne mich hinaus.
Es
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