Klassentreffen
erinnern, das mich überkam, wenn ich ihn auch nur ansah, dieses unglaubliche Glück, wenn er mir unerwartet und wie beiläufig die Hand streichelte, wenn wir zufällig im Schulflur nebeneinander gingen. Und dass ich fast schon zwanghaft an ihn denken musste, wenn ich allein zu Hause war und Herzchen in mein Schulheft malte. Das war Verlangen, so jung ich damals auch war, und so etwas habe ich danach nie mehr empfunden. Auch nicht bei Olaf.
»Bei wem denn? In wen warst du so richtig verliebt?«, fragt Jeanine verschwörerisch. Da erzähle ich ihr doch von Bart. Je länger ich von ihm rede, desto kürzer scheint mir das alles her zu sein. Es würde mich nicht wundern, wenn ich ihn jetzt vorbeikommen sähe.
Als ich ihr alles geschildert habe, berichtet mir Jeanine von ihrem Liebesleben, und das dauert bedeutend länger.
Auf dem Rücken liegend, lausche ich ihrer Stimme und lasse mir das Gesicht von der Sonne wärmen. Ich grabe mit den Fersen Kuhlen in den Sand, höre die Brandung rauschen und das Kreischen der Möwen, die am tiefblauen Himmel ihre Kreise ziehen, schnuppere den vertrauten Geruch von Pommes und Sonnencreme.
Eine Erinnerung kommt hoch. Es ist Sommer, ich bin dreizehn und liege allein am Strand. Ich gehe öfter allein an den Strand; es ist nicht weit, und ich liege gern mit einem Buch im Sand, mit der Brandung als Hintergrundgeräusch.
Ein Stück weiter weg lässt sich eine Gruppe Mädchen nieder. Aus den Augenwinkeln gucke ich hinüber. Es sind Isabel, Mirjam und noch ein paar Klassenkameradinnen. Meine Freundschaft mit Isabel ist schon nicht mehr, was sie einmal war, aber sie schikaniert mich noch nicht.
Also stehe ich auf, klaube meine Sachen zusammen und gehe zu der Gruppe hinüber. Lächelnd bleibe ich vor ihnen stehen, der gleißenden Sonne wegen mit der Hand über den Augen. Ich frage schüchtern, ob ich mich dazusetzen kann. Ich könnte auch ganz unbekümmert »Hi!« sagen und mich in den Sand plumpsen lassen, aber ich spüre intuitiv, dass da eine Hierarchie ist, dass so ein Verhalten unverschämt wäre.
Isabel guckt her. Sekundenlang treffen sich unsere Blicke, dann schaue ich weg. Die Mädchen stecken die Köpfe zusammen, beratschlagen und erteilen mir nach kurzer Zeit eine Absage.
Ich hebe meine Sachen auf, die ich schon hingelegt habe, und gehe an meinen alten Platz zurück. Mit dem Handtuch über der Schulter und der Badetasche unterm Arm betrachte ich die Liegekuhle, die ich mir vorhin gegraben habe. Eine leichte Brise streicht über den Sand, und mit einem Mal wird mir kalt. Ich drehe mich um und gehe langsam nach Hause.
»Sabine?« Jeanines Stimme kommt von weit her. Ich brauche ein paar Sekunden, bis ich wieder ganz in der Gegenwart bin.
»Hmmm?«, mache ich.
»Hast du etwa geschlafen?«
»Nein, ich hab zugehört«, sage ich schuldbewusst.
»Was hab ich denn als Letztes gesagt?«
»Äh …«
»Aha! Abwesend also.« Jeanine dreht sich auf die Seite und sieht mich über den Rand ihrer Sonnenbrille hinweg streng an. »Woran hast du denn gedacht, dass du dir meine hochinteressante Geschichte entgehen lässt?«
»An früher. An die Schulzeit.«
Jeanine schiebt die Sonnenbrille hoch. »Warum denn das?«
»Weil ich früher am Meer gewohnt hab. Ich konnte zu Fuß zum Strand gehen.«
»Stimmt, du hast in Den Helder gewohnt. Hat schon was.«
»Julianadorp«, sage ich. »In Julianadorp hab ich gewohnt.«
»Julianadorp«, wiederholt Jeanine. »Klingt nach Vergnügungspark.«
»Der heißt Julianatoren«, korrigiere ich.
»Ach ja, genau. Ich war mal mit meinem kleinen Neffen dort.«
Wir reden über andere Dinge. Über Jeanines Neffen René, wobei wir automatisch auf die andere Renée kommen, und Jeanine erzählt, wie es ihr ergangen ist, als ich mit meiner Depression zu Hause war. Mit geschlossenen Augen liegen wir auf unseren Badelaken, und jetzt klingt Jeanines Stimme ganz nah.
»Mir blieb einfach nichts anderes übrig als zu gehen«, schließt sie. »Renée ist so dominant, so ehrgeizig. Du solltest auch gehen, Sabine.«
»Und was dann?«, sage ich schläfrig. »Zuerst muss ich eine andere Stelle finden.«
»Wenn’s nur ums Finanzielle geht, helf ich dir gern. Notfalls kannst du bei mir wohnen, wenn du keinen Job findest und in Geldnot gerätst.«
Den ganzen Nachmittag verbringen wir am Strand. Erst gegen sieben schleppen wir die Kühlbox und unsere Strandtaschen zum Auto. Schön gebräunt und die Shorts und T-Shirts voller scheuernder Sandkörnchen fahren wir nach
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