Klassentreffen
einmal in den Herbstferien mit uns in ein Feriendorf nach Limburg gefahren war. Wir waren damals etwa zehn Jahre alt. Isabel bekam einen epileptischen Anfall und wollte hinterher unbedingt zu ihrer Mutter. Mein Vater setzte sie sofort ins Auto und fuhr drei Stunden am Stück, um sie nach Hause zu bringen. Ich dachte daran, wie oft er für uns Pfannkuchen gebacken hatte, mit uns in Vergnügungsparks gewesen war und uns Zaubertricks vorgeführt hatte, die wir natürlich auf Anhieb durchschauten.
Ich sah Isabels abschätzigen Gesichtsausdruck, und in meinem Kopf begann es seltsam zu summen. Das Summen schwoll an, bis es hinter meinen Augen regelrecht dröhnte und ich nur noch verschwommen sehen konnte. Mein Herz klopfte so schnell, dass mir die Brust wehtat, und meine Hand umklammerte wie eine Klaue den Becher Tomatensuppe.
In blinder Wut schüttete ich den Inhalt über Isabels neue weiße Lederjacke. Ich weiß noch heute, wie sie guckte. So erschrocken und bestürzt, dass es mir erst Leid tat. Bis sie den Blick starr auf mich richtete. Da wusste ich, dass ich in ernsthaften Schwierigkeiten steckte, aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Statt die Schikanen tatenlos über mich ergehen zu lassen, hatte ich ihr den Krieg erklärt, ein Krieg, der dann auch stattfand.
Die Mädchen aus Isabels Clique versperrten mir ständig den Weg und zwickten mich, wenn ich mich an ihnen vorbeizwängte. Sie zerstachen meine Fahrradreifen, leerten
meine Schultasche auf dem Hof aus und zerrissen meine Hefte.
Nach Schulschluss passten sie mich ab, pöbelten mich an, machten einen Riss in meine neue Bluse, hielten mich fest und schnitten mir eine »Blöde-Kuh-Frisur«. Ich floh ins Schulgebäude, zu Herrn Groesbeek. Er brachte mich in seinem Transporter nach Hause und sagte, ich solle mich ruhig an ihn wenden, wenn sie mich wieder in die Mangel nehmen wollten. Er würde mein Rad nachher reinstellen und den Reifen flicken. Und was denen überhaupt einfiele, ob die vielleicht nicht alle Tassen im Schrank hätten. Aber zu ihnen sagte er kein Wort. Vielleicht fürchtete er selbst die Macht der Clique, oder er meinte, nichts gegen sie ausrichten zu können.
Ich traute mich nicht mehr durchs Haupttor raus. Manchmal ging ich neben einem Lehrer her durch den Lehrerausgang, aber der Weg über den Schulhof blieb mir dennoch nicht erspart, weil ich ja mein Rad holen musste.
Oft flüchtete ich in Herrn Groesbeeks Hausmeisterzimmer, aber das war eine Notlösung. Herr Groesbeek hatte so seine eigene Art, mich zu trösten. Er legte mir den Arm um die Schultern, sodass seine Hand direkt vor meiner Brust baumelte, wobei er sie wie zufällig manchmal streifte. Oder er zog mich an sich und legte mir seine raue Hand in den Nacken. Bei ihm fühlte ich mich auf eine andere Art in die Enge getrieben.
Wenn er meinte, mir genug Trost gespendet zu haben, ließ er mich durchs rückwärtige Fenster hinaus. Dann versteckte ich mich im Gebüsch, bis die Clique keine Lust mehr hatte, auf mich zu warten. Oft ging ich zu Fuß nach Hause und schob das kaputte Rad. Zu Hause flickte mir Robin den Reifen. Er stellte keine Fragen, schrieb sich aber meinen Stundenplan ab. Von da an stand er, wann immer es
möglich war, nach dem Unterricht mit seinem Moped auf dem Hof neben dem Fahrradschuppen, und wenn er mal früher aus hatte, wartete er auf mich. Wir fuhren zusammen nach Hause, ich bei ihm eingehängt. Unterwegs überholten wir Isabel.
Wie kann es nur so weit kommen, dass alles, was man ist, wofür man steht und was einem Sicherheit gibt, eines Tages wie ausgelöscht ist? Dass man zu einem verhuschten Wesen wird, das mit hängenden Schultern herumläuft, seinen ganzen Mut zusammennehmen muss, um das Wort zu ergreifen, und vor dem schrillen Klang der eigenen Stimme erschrickt?
Die Unsicherheit ergreift immer mehr von einem Besitz und bestimmt irgendwann das ganze Denken und Handeln, bis man schließlich ist, was man ausstrahlt.
Eltern machen sich ständig Gedanken über Erziehungsfragen und darüber, was für die Entwicklung ihrer Kinder gut ist und was nicht, etwa lange ausgehen, Bier trinken, Drogen nehmen, sich in schlechter Gesellschaft rumtreiben. Sie sehen es als ihre Lebensaufgabe an, aus ihren Kindern ausgeglichene, selbstständige Menschen zu machen, und sind bitter enttäuscht, wenn ihnen das nicht gelingt.
In Wirklichkeit haben sie nicht halb so viel Einfluss, wie sie glauben. Die Persönlichkeit entwickelt sich nämlich in der Schule, durch die
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