Klassentreffen
der Klinik. Meine Mutter machte er völlig kirre, wenn er wild mit der Hand herumfuchtelte, mit der er am Überwachungsgerät hing, sodass die Herzkurve verrückt spielte. Robin schüttete sich jedes Mal aus vor Lachen, aber ich fand das nicht sehr witzig. Ich saß still auf einem Stuhl und betrachtete das bleiche Gesicht meines Vaters, das komische blaue Krankenhaushemd und die Elektroden auf seiner Brust, die im krassen Gegensatz zu seiner guten Laune standen.
In dem Moment wurde mir klar, wie gern ich meinen Vater hatte. Ich verzieh ihm, dass er bei Schulaufführungen mein Klavierspiel viel zu laut beklatscht hatte, ich verzieh ihm sogar, dass er – zur Belustigung meiner Klassenkameraden – voller Begeisterung »Bravo!« geschrien hatte. Ich verzieh ihm, dass er darauf bestand, mir morgens ein Schulbrot zu machen, aus kerngesundem dunklem Vollkornbrot,
das meine Mutter extra beim Biobäcker holte. Mein Vater schnitt klobige Scheiben davon ab, die er großzügig mit Käse belegte, den er ebenfalls mit dem Messer von einem runden Edamer säbelte. Ich bekam das Brot kaum in den Mund und wurde deswegen natürlich gehänselt, aber ich behauptete steif und fest, ich würde mir mein Schulbrot selbst machen, denn lieber war ich die Zielscheibe des Spotts als mein Vater. Mehr noch: Es kam mir gar nicht in den Sinn, zu fragen, ob meine Eltern das Brot nicht beim Bäcker schneiden lassen oder wenigstens einen Käsehobel kaufen könnten – ich wäre mir sonst undankbar vorgekommen. Schließlich stand mein Vater jeden Morgen extra früh auf, um mir mein Brot zu machen. Ich sagte auch nie, dass ich das selbst könne, denn er tat es gern. Es sei die einzige Zeit des Tages, in der wir gemütlich zusammen sein konnten, meinte er immer. Meine Mutter ist keine Frühaufsteherin, und Robin frühstückte nicht; er fand immer viel zu spät aus den Federn und ging dann gleich aus dem Haus. Mein Vater kochte mir erst umständlich Tee, dann legte er das Schneidebrett auf die Spüle.
Er war es gewöhnt, zeitig aufzustehen. Früher hat er als Lokführer bei der Niederländischen Eisenbahngesellschaft gearbeitet. Oft musste er schon um fünf zum Dienst. Manchmal bin ich auch so früh wach geworden – ich war damals noch klein, vielleicht sechs Jahre alt – und hörte ihn die Treppen hinunterschleichen, auf Strümpfen, damit er uns nicht aufweckte. Dann schlüpfte ich aus dem Bett und stellte mich barfuß und im Nachthemd ans Fenster, um ihm zu winken. Es dauerte nie lange, bis er aus dem Haus ging, mir aber kam es wie eine Ewigkeit vor, denn ich musste ganz furchtbar dringend pinkeln. Einmal rannte ich schnell aufs Klo, pinkelte, lief wieder zum Fenster und war bitter enttäuscht, als mein Vater schon gegangen war. Ich stellte mir
vor, wie er erwartungsvoll zum Fenster hochgeschaut hatte, und ich war nicht da gewesen. Am nächsten Morgen war ich pflichtgetreu wieder auf meinem Posten, von einem Fuß auf den anderen tretend.
Dem ersten Herzinfarkt folgte ein zweiter, leichterer, noch während er in der Klinik lag. Auch den überlebte mein Vater zum Glück. Ich besuchte ihn nach Schulschluss oder wenn ich eine Freistunde hatte. Manchmal schwänzte ich auch.
Einmal kam ich nach einem Besuch während einer Freistunde in die Schule zurück und sah meine Klassenkameraden im Aufenthaltsraum zusammensitzen. Isabel war schon den ganzen Tag blendender Laune, weil sie eine tolle weiße Lederjacke zum Geburtstag bekommen hatte, die allseits bewundert wurde.
Als die anderen mich kommen sahen, trat Stille ein. Eine angespannte Stille mit unterdrücktem Kichern und vielsagenden Blicken. Damit sie nicht gleich über mich herfallen konnten, blieb ich stehen und zog mir am Automaten einen Becher Tomatensuppe. Ich steuerte gerade eine Ecke des Raums an, da kamen sie auch schon auf mich zu.
»Sieh an, da ist ja Sabine wieder!«, sagte Mirjam anzüglich. »Wo treibst du dich eigentlich immer rum?«
»In den Dunklen Dünen «, sagte jemand. »Mit ein paar Freiern.«
Gelächter.
»Mein Vater hatte einen Herzinfarkt«, sagte ich. »Er liegt im Gemini.«
Sekundenlang war es still.
Isabel fasste sich als Erste. Ganz kurz meinte ich so etwas wie Erschrecken in ihren Augen zu sehen, aber was sie sagte,
stand dazu in einem so krassen Widerspruch, dass ich mich wohl getäuscht haben muss.
»Einen Herzinfarkt? Kein Wunder, bei seiner fetten Wampe!«, sagte sie verächtlich.
Mir fiel ein, wie lieb sich mein Vater um Isabel gekümmert hatte, als sie
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