Klassentreffen
Amsterdam zurück.
»Pizza bei dir?«, schlägt Jeanine vor.
»Ich muss ein bisschen aufpassen mit den vielen Pizzen«, sage ich. »Gestern Abend haben wir auch schon welche gegessen.«
Wir poltern die Treppe zu meiner Wohnung hoch, lassen unsere Sachen fallen und gehen duschen.
»Woher kennst du Olaf überhaupt?«, fragt Jeanine, als ich die Dusche aufdrehe. »Du hast doch gesagt, du kennst ihn von früher. Aus Den Helder?«
Ich stelle mich unter den warmen Strahl und erzähle Jeanine, dass Olaf mit meinem Bruder befreundet war und manchmal zu uns nach Hause kam. Jeanine sitzt auf dem Klodeckel und hört zu. Bevor ich mich versehe, rede ich auch schon wieder von Bart und dann von Isabel.
»Unglaublich, dass du sie gekannt hast«, sagt Jeanine. »Dass ihr sogar Freundinnen wart! Ich hab ihr Bild früher oft in den Nachrichten gesehen. Erinnerst du dich wirklich an gar nichts mehr von damals?«
»Jedenfalls nicht an viel.«
Jetzt duscht Jeanine, und ich setze mich aufs Klo und lackiere meine Zehennägel.
»Ich hab da mal was drüber gelesen!«, ruft Jeanine über das Rauschen des Wassers hinweg. »Wo, weiß ich nicht mehr, in irgendeiner Zeitschrift vermutlich. Es ging um Leute, die in ihrer Kindheit sexuell missbraucht worden sind und nichts mehr davon wussten. Sie hatten die schlimmen Erlebnisse komplett verdrängt, weil sie ihnen seelisch nicht gewachsen waren. Aus irgendeinem anderen Grund machten sie eine
Therapie, kamen dadurch besser im Leben zurecht, und in dem Moment waren die Erinnerungen plötzlich wieder da.«
»Ich bin nicht sexuell missbraucht worden«, sage ich.
»Nein, du Dummchen, das hab ich doch auch gar nicht behauptet. In dem Artikel ging es um Verdrängung. Es könnte doch sein, dass du auch was aus deinem Gedächtnis verbannt hast. Etwas, das so schlimm ist, dass du es nicht zulassen kannst.«
Konzentriert trage ich Nagellack auf und sehe plötzlich in jeder glänzenden Oberfläche Isabels Gesicht. Ein Gesicht, in dem kein Funken Leben mehr ist. Erschrocken mache ich die Augen zu, und als ich mich wieder gefasst habe, sehe ich, dass nicht nur die Nägel, sondern auch meine Zehen rot sind.
Das Wasser hört auf zu plätschern, und Jeanine, die sich ein Handtuch umgewickelt hat, kommt aus der Duschkabine.
»Hast du schon Pizza bestellt?«, fragt sie.
KAPITEL 15
Einen Monat vor meinem fünfzehnten Geburtstag wurde mein Vater mit dem Krankenwagen von seiner Arbeitsstelle in die Klinik nach Den Helder gebracht. Herzinfarkt.
Ich wurde aus der Deutschstunde geholt, und Herr Groesbeek fuhr mich ins Gemini-Krankenhaus. Herr Groesbeek war der etwas grobschlächtige Hausmeister unserer Schule, der über den Hof stampfte und ständig rumschrie. Alle hatten einen Heidenrespekt vor ihm und seinen riesigen Händen, mit denen er raufende Jungs trennte, rotzfreche Mädchen am Arm packte, Reifen flickte und die Blumen in den Klassenzimmern goss. In meinen Augen war Herr Groesbeek steinalt und irgendwie auch ein bisschen unheimlich mit seinem wirren grauen Haarschopf und der Donnerstimme. Jeden Tag fuhr er mit seinem Transporter von Callantsoog, wo er wohnte, nach Den Helder. Unterwegs nahm er manchmal Schüler mit, die sich auf dem Rad durch den Wind und strömenden Regen zur Schule kämpften. Mich hat er auch mehrmals mitgenommen.
Auf dem Weg in die Klinik guckte ich aus dem schmutzigen Fenster und spürte, dass Herr Groesbeek mich ansah.
»Du hast es nicht leicht in letzter Zeit, was?«, sagte er.
Verständnislos sah ich ihn an.
»In der Schule, meine ich«, sagte er. »Und jetzt auch noch das.«
Ich wusste nicht recht, was ich sagen sollte, also nickte ich nur.
Herr Groesbeek tätschelte mir das Bein und ließ die Hand dort liegen. Seine Hand war groß und behaart. Ich starrte sie an und spürte ihr Gewicht auf meinem Bein. Erst nach ein paar Minuten nahm er sie wieder weg.
Wir fuhren schweigend weiter, und er setzte mich beim Gemini-Krankenhaus ab.
»Alles Gute«, sagte er. »Sag deinem Vater gute Besserung.«
Eilig stieg ich aus und sah dem Transporter nach, der wendete und davonfuhr. Dann drehte ich mich um und betrat das Krankenhaus.
Ein Herzinfarkt ist eine ernste Sache, aber irgendwie hatte ich nie das Gefühl, mein Vater sei in Lebensgefahr. Ich konnte es mir einfach nicht vorstellen, und sein Verhalten während der Besuchszeit bestärkte mich darin. Wenn ich in sein Zimmer kam, begrüßte er mich mit einem breiten Grinsen und einem Scherz, so als läge er nur zum Spaß in
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