Klassentreffen
Renée hinaus und steuert mit großen, fast unweiblichen Schritten das Sekretariat an. Ich folge ihr deutlich langsamer. Als ich hereinkomme, fuhrwerkt sie schon wie wild herum: Sie schaltet die PCs an, lässt die Kaffeemaschine laufen und schließt die Aktenschränke auf.
Brummend und mit einer fröhlichen Startmelodie fahren die Computer hoch.
Renée klickt sofort Outlook an und öffnet ihre Mailbox. »Sabine, hast du gestern noch die Vollmacht für Price & Waterhouse losgeschickt? Ich hab hier eine Mail, in der sie fragen, wo die Vollmacht bleibt.«
»Vollmacht? Welche Vollmacht?«, sage ich.
»Die ich dir gestern zum Wegschicken gegeben habe. Ich hatte einen Zettel an deinen Bildschirm geklebt, weil ich wegmusste. Das hast du doch wohl gesehen? Mitten auf dem Bildschirm war der Zettel!«
»Ich hab nichts gesehen.«
Sekundenlang starrt mich Renée sprachlos an. »Das ist nicht dein Ernst!«, sagt sie schließlich. »Die Vollmacht ist also nicht verschickt worden?!«
»Nein, wenn ich von nichts weiß, kann ich auch nichts verschicken, oder?«
Renée fasst sich an den Kopf, klappt den Mund auf und wieder zu und tigert dann nervös durchs Sekretariat. »So ein Mist! Das darf doch nicht wahr sein!«, sagt sie frustriert.
Ich nehme den Stapel Faxe von meinem Schreibtisch, an die ein Zettel geheftet ist: Bitte vor halb elf verschicken.
»Guten Morgen!« Wouter kommt ins Sekretariat und geht gleich zu seinem Postfach.
»Wouter!«, Renée stürzt sich auf ihn wie der Falke auf die Maus. »Wir haben ein Problem. Sabine hat vergessen, Price & Waterhouse die Vollmacht zu schicken!«
»Wie bitte?!« Ruckartig dreht sich Wouter um.
»Reg dich nicht auf, das kommt schon in Ordnung. Wenn du mir dein Auto leihst, bringe ich sie persönlich hin.« Sie streckt die Hand aus, aber Wouters Blick fixiert mich weiterhin.
»Ich habe doch mehrmals gesagt, dass die Vollmacht unbedingt heute dort sein muss, und zwar vor zehn. Mehrmals hab ich das gesagt«, sagt Wouter ruhig.
Zu ruhig.
»Jeder macht mal einen Fehler, Wouter«, sagt Renée beschwichtigend.
»Aber nicht so einen! Price & Waterhouse ist unser größter Kunde!«
Renée gibt sich gelassen. »Schon gut, wir wollen uns doch nicht aufregen. Gib mir deine Autoschlüssel, dann bring ich die Vollmacht rasch hin.« Sie guckt auf ihre Uhr. »Das müsste gerade eben noch zu schaffen sein.«
Wouter drückt ihr seine BMW-Schlüssel in die Hand. »Beeil dich. Aber fahr vorsichtig.«
»Klar«, sagt Renée. Sie nimmt ihre Tasche und verlässt im Laufschritt das Sekretariat, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Wouter und ich bleiben allein zurück. Die Stille hängt schwer zwischen uns.
»Ich wusste von nichts«, sage ich. »Renée hat mir angeblich einen Zettel an den PC geklebt, aber da war keiner. Jedenfalls hab ich nichts gesehen.«
Wouter fährt sich resigniert durchs grau melierte Haar.
»Um zehn kommen die Kunden von Illycaffè«, sagt er. »Sprichst du Italienisch?«
»Nein. Aber Deutsch und Französisch.«
»Es sind Italiener«, sagt Wouter. »Kümmer dich bitte darum, dass im Konferenzraum alles bereitsteht, ja?«
Ich nicke und gucke auf die Faxe in meiner Hand, die alle vor halb elf raus müssen. »Wo sind Zinzy und Margot?«
»Keine Ahnung.« Wouter geht aus dem Sekretariat.
Ich öffne den Outlook-Terminkalender in meinem PC und sehe unter Freitag, 14. Mai, nach: Zinzy frei. Margot Zahnarzt.
Na toll.
Auf dem Weg zur Rezeption, wo die Delegation Italiener wartet, knicke ich sehr unelegant um, beiße aber die Zähne zusammen. Ich begrüße die Besucher mit einem herzlichen buongiorno , danach könnte ich allenfalls noch grazie und Pizza margherita sagen, also wechsle ich rasch zu Englisch.
Ich führe die Herren in den Konferenzraum, wo ich in fliegender Eile Milch, Zucker und einen Teller Kekse auf den Tisch gestellt habe. Der Kaffee steht auch schon bereit, aber die Herren möchten lieber tè .
Ich informiere Wouter, dass die Leute von Illycaffè da sind, und stürze zum Kaffeeautomaten. Ich gieße den Kaffee aus der Thermoskanne, spüle sie schnell aus und schütte dann becherweise heißes Wasser hinein. Teebeutel dazu, fertig. Wouter wirft mir einen verärgerten Blick zu, als ich endlich in den Konferenzraum komme. Vor lauter Nervosität bekleckere ich beim Einschenken die Untertassen.
»Schon gut, Sabine. Wir schenken uns selbst ein. Hast du auch Kaffee?«
Nein, jetzt nicht mehr.
»Selbstverständlich«, sage ich. »Kommt
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