Klassentreffen
dir vorbei. Falls du was anderes vorhast, zum Beispiel was, das mit O anfängt, dann ruf mich kurz zurück. Oder nein, schick mir lieber eine SMS, ich muss nämlich gleich in eine Besprechung. Und noch was: Ich hab mich im Internet unter vermisst.nl ein bisschen umgesehen und einen Link zu einer Website über Isabel gefunden. Die hat ihr Vater gemacht. Ich dachte, das interessiert dich vielleicht.«
Interessiert mich das? Meine gute Laune verfliegt, und ich sinke auf einen Stuhl am Esstisch. Nach ein paar Minuten
hole ich das Handy, das neben dem PC liegt, und schicke Jeanine eine SMS: Gehe 2night essen mit Olaf. Kommst du mit? Ich frage auch Zinzy.
Ich drücke auf Versenden und schalte dann den PC an. Es dauert eine Weile, bis er hochgefahren ist. Ich rufe das Internet auf und tippe leicht widerwillig vermisst.nl ein. Gleich darauf sehe ich Isabels Gesicht zwischen den vielen Schwarzweiß- und Farbfotos. Ich klicke ihr Bild an, und die Umstände ihres Verschwindens erscheinen auf dem Monitor. Fotos von festgenommenen Verdächtigen finde ich bei den anderen Fällen. Einer der Männer zieht meine Aufmerksamkeit auf sich – keine Ahnung, warum. Er ist um die dreißig, blond, mit schmalem Gesicht und tiefen Falten, die von der Nase zu den Mundwinkeln laufen und ihn vorzeitig gealtert erscheinen lassen.
Ich lese den dazugehörigen Text. Der Mann heißt Sjaak van Vliet und wurde wegen Mordes an Rosalie Moosdijk verurteilt, die er im Sommer 1997 in den Dünen bei Callantsoog vergewaltigt und erwürgt hat. Inzwischen ist er in Haft verstorben, ohne ein Geständnis abgelegt zu haben, was Morde an weiteren vermissten Mädchen angeht.
Mit einem Mausklick ist das unsympathische Gesicht wieder verschwunden, und ich surfe weiter. Mein Blick fällt auf den Link zu der Website, die Isabels Vater erstellt hat. Ich klicke sie an.
Über die volle Bildschirmbreite erscheint Isabels Name. Rechts ist ein Foto von ihr zu sehen, das wohl im Garten hinter ihrem Elternhaus aufgenommen wurde.
Das ist unsere Tochter Isabel Hartman. Sie ist am 8. Mai 1995, damals 15 Jahre alt, spurlos verschwunden. Seit jenem Tag haben wir nichts mehr von ihr gehört. Diese Website haben wir erstellt, weil wir hoffen, dadurch eine Spur unserer Tochter zu finden.
Wir bitten alle, die etwas über Isabels Verschwinden zu wissen glauben, mit uns Kontakt aufzunehmen.
Luuk und Elsbeth Hartman
Ich klicke weiter zu einem Bericht über den Tag, an dem Isabel verschwand. Ihre Freundin M. habe sie als Letzte um etwa zwei Uhr nachmittags gesehen, bevor ihre Wege sich trennten, steht da, und seitdem fehle von Isabel jede Spur.
Ich klicke zu dem Plan, auf dem der Weg von der Schule in die Dünen eingezeichnet ist. Plötzlich macht es klick! in meinem Kopf. Ich höre das Rauschen des Windes in den Baumwipfeln, und klare, deutliche Bilder schweben wie Seifenblasen auf mich zu. Wie in einem Film erlebe ich alles, mit mir selbst in der Hauptrolle, ohne jedoch den Text zu kennen.
Das Moos federt unter meinen Schritten, Zweige streifen meine Haut. Es ist dunkel unter den Bäumen, aber vor mir liegt eine Lichtung. In mir steigt eine unerklärliche Angst auf. Es ist, als berge meine Seele ein Geheimnis, das sie nicht mit mir teilen will.
Am Rand der sandigen Lichtung bleibe ich stehen, verborgen im grünen Laub. Ich mache einen kleinen Schritt nach vorn.
Stopp! Nicht weiter! Den Film anhalten! Das ist so ein Film, der ganz friedlich beginnt, aber man weiß ganz genau, dass gleich etwas Unerwartetes, etwas Grausiges passieren wird.
Ich halte ihn an, bevor er mich mitreißt, klicke schnell die Website über Isabel weg und verlasse das Internet. Ich gehe in die Küche und schenke mir mit zitternden Händen ein Glas Wein ein.
Nur ein Glas, sage ich mir: Langsam und mit geschlossenen Augen trinke ich es aus. Los, noch eins, schließlich habe
ich Geburtstag. Der Wein rinnt durch meine Kehle und nebelt die Angst ein. Leicht benommen gehe ich ins Wohnzimmer und lasse mich aufs Sofa sinken.
Gut gemacht, Sabine! Wein mitten am Tag – die Lösung für all deine Probleme.
Obwohl ich mich lieber ein wenig hinlegen würde, gehe ich in die Küche und brühe Kaffee auf. Als ich neben der gurgelnden Kaffeemaschine stehe und zuschaue, wie der dünne braune Strahl in die Kanne rinnt, sehe ich wieder ein Bild vor mir: Ich stehe im Wald, regungslos am Rand der Lichtung.
Heftig schüttle ich den Kopf, um es zu vertreiben, und schenke mir Kaffee ein, noch bevor er ganz durchgelaufen
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