Klassentreffen
Augen flimmert es, und meine Lungen lechzen nach Sauerstoff. Ich
atme schneller und schneller und kriege trotzdem kaum noch Luft. Hektisch zerre ich eine leere Plastiktüte aus dem Abfalleimer, wanke in eine Klokabine, setze mich auf die Brille und atme in die Tüte. Ein und aus, ein und aus.
Erst nach einer halben Stunde gehe ich an meinen Platz zurück.
»Sabine, kannst du bitte kurz mitkommen? Ich muss mit dir reden«, sagt Renée, kaum dass ich mich an den PC gesetzt habe. Wie aus dem Boden gewachsen steht sie auf einmal neben mir und blickt freundlich-entschlossen auf mich herab, wie eine Mutter, die ihrem störrischen Kind Vernunft beibringen will. »Lass uns kurz ins Besprechungszimmer gehen, ja?«, sagt sie.
»Okay«, sage ich scheinbar gelassen und speichere das gerade geöffnete Dokument in aller Ruhe ab. Aufreizend langsam schiebe ich meinen Stuhl zurück, krame noch ein bisschen in den Papieren vor mir und hebe erst dann den Blick, als hätte ich Renée halb vergessen. Sie ist schon ein paar Schritte gegangen und sieht sich, in der Erwartung, dass ich ihr auf dem Fuße folge, irritiert um.
»Worum geht’s«, frage ich. »Ich hab nämlich nicht viel Zeit.« Als wäre das Gespräch lediglich eine lästige Unterbrechung meiner Arbeit.
»Das sag ich dir schon noch«, sagt Renée barsch.
Wir gehen in den Raum, in dem ich das Bewerbungsgespräch mit ihr geführt habe. Renée hält mir die Tür mit einer Miene auf, als wollte sie mich gleich ins Gefängnis werfen, und schließt sie dann sorgfältig hinter uns. Sie macht den Fehler, sich auf einen Stuhl zu setzen. Ich nehme auf der Tischkante Platz, damit ich auf sie herabsehen kann. Das passt ihr sichtlich nicht, aber ich ignoriere ihre Aufforderung, mich zu setzen. Schließlich kann ich sitzen, wo ich will.
Renée faltet die Hände und sieht gelassen zu mir auf.
»Am besten, ich falle gleich mit der Tür ins Haus«, sagt sie. »Der Grund, weshalb ich mit dir sprechen möchte, ist deine Arbeitsleistung. Ich weiß, dass du lange krank warst und dich erst wieder an die Büroarbeit gewöhnen musst. Deshalb habe ich dir auch Zeit zum Akklimatisieren gelassen. Dass du die Arbeit langsam wieder angehst, ist durchaus verständlich, aber mich stört, dass das zum Dauerzustand geworden ist. Du stehst öfter am Kaffeeautomaten herum, als dass du an deinem Arbeitsplatz sitzt, gehst ständig nach oben, um Mars zu essen, und außerdem ist mir aufgefallen, dass du oft schon um Viertel nach zwölf deine Tasche packst. Und jetzt warst du schon wieder krank.«
Mein Herz beginnt zu rasen. Das Blut rauscht mir in den Ohren, und mein Mund wird ganz trocken. Ich muss mir eine Antwort zurechtlegen. Renée Kontra geben. Die Anschuldigungen mit guten Argumenten abschmettern …
»Äh …«, sage ich und will gerade zu einem Plädoyer ansetzen, da fällt sie mir auch schon ins Wort: »Und das ist nicht nur mein Eindruck, die anderen sehen das auch so«, sagt sie. »Mit den anderen meine ich Margot und Zinzy. Wir haben abgemacht, dass wir deine Arbeitsleistung im Auge behalten und uns in vierzehn Tagen darüber austauschen.«
Ich traue meinen Ohren kaum. Wut kocht in mir hoch, dadurch schlage ich einen schärferen Ton an als beabsichtigt. »Kannst du dich nicht mehr auf dein eigenes Urteilsvermögen verlassen?«, frage ich sarkastisch.
»Damit hat das nichts zu tun. Wir sind Kolleginnen, wir arbeiten hier im Team«, sagt Renée.
»Im Team! Genau!«, platze ich los und mache eine ausladende Handbewegung, als wollte ich fragen, was wir beide dann allein hier in dem großen, leeren Besprechungszimmer machen.
Renée seufzt. »Ich hatte befürchtet, dass du mit meiner Beförderung Probleme haben würdest. Aus diesem Grund habe ich Margot und Zinzy gebeten, dich ebenfalls zu beurteilen.«
»Was absolut nicht ihre Aufgabe ist!«, fauche ich.
»Ich habe sie darum gebeten, und damit ist es ihre Aufgabe.«
Es wurmt mich, es wurmt mich maßlos. »Das ist also die Art und Weise, wie wir künftig miteinander umgehen«, sage ich langsam.
»Ich bin die Letzte, die das will, das kannst du mir glauben«, sagt Renée.
Ich überlege, wie sie wohl reagieren würde, wenn ich ihr ins Gesicht schlage. Bestimmt genießt sie es, mir, die ich sie eingearbeitet, unter meine Fittiche genommen und ihr ein bisschen Französisch beigebracht habe, damit sie nicht in die Röhre guckt, wenn Kunden aus Frankreich anrufen, ihre Macht zu demonstrieren.
Ich bereue es. Bitter.
»Wenn dir irgendwas
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