Klassentreffen
gesehen, Sabine, und ich war den ganzen Tag zu Hause.«
Verdutzt sehe ich sie an. »Sind Sie ganz sicher? Er hatte Blumen dabei.«
»Bei mir war den ganzen Nachmittag über niemand«, sagt die alte Dame energisch. »Und wenn dein junger Mann bei mir geklingelt hätte, dann hätte er den Schlüssel garantiert nicht gekriegt. Für wen hältst du mich denn, Sabine? So vertrauensselig bin ich dann doch nicht, und das weißt du auch. Neulich war einer hier und hat behauptet, er komme von der Bank. Es seien falsche Scheckkarten in Umlauf und er müsse meine kontrollieren. Zu dem hab ich gesagt: ›Kontrollieren Sie lieber mal Ihr Oberstübchen, wenn Sie glauben, ich fall auf so was rein!‹ Und dann hab ich ihm die Tür vor der Nase zugeknallt. Weißt du, ich bin zwar alt, aber nicht bekloppt!«
Ich lächle meine Unsicherheit weg. Nein, Frau Bovenkerk ist alles andere als bekloppt. »Aber wie ist Olaf dann in meine Wohnung gekommen?«, überlege ich laut.
»War der etwa drin? In deiner Wohnung?«
»Ja. Auf dem Tisch stand eine große Vase mit Rosen, als ich nach Hause kam. Er hat gesagt, er hätte Sie um meinen Schlüssel gebeten und ihn später in Ihren Briefkasten geworfen.«
»Dann lügt dein Freund wie gedruckt.«
Sofort greife ich zum Handy und wähle Olafs Nummer. Lange ertönt das Freizeichen, dann lande ich bei der Voicemail. Ärgerlich mache ich das Handy aus.
»Sei bloß vorsichtig«, sagt Frau Bovenkerk. »Männern, die heimlich in Wohnungen eindringen, kannst du nicht trauen,
und wenn sie tausend Rosen mitbringen. Wölfe im Schafspelz. Genau wie der junge Mann, der heute Abend an deiner Tür rumgemacht hat. Ich hab’s gehört, bin ein Stück die Treppe runter und hab gerufen: ›Hallo! Wer sind Sie, und was tun Sie da, wenn ich fragen darf?‹ Na, der hat sich vielleicht erschrocken! Hat was gebrummelt und weg war er.«
Ich weiß nicht, ob ich noch mehr solche Enthüllungen verkrafte. Mir wird plötzlich eiskalt.
»Ein Mann? Heute Abend? An meiner Tür? Was hat der genau gemacht?«
»Wie ich schon sagte: Am Schloss hat er rumgemacht. Geklingelt hat er. Und das Ohr an die Tür gelegt. Ein ganz zwielichtiger Bursche war das. Ich hab mir schon überlegt, die Polizei zu rufen, aber da ging er wieder.«
»Hat er was gesagt? Wie hat er ausgesehen? War er alt oder jung?«
»Jung. So wie du, vielleicht ein bisschen älter. Dunkles Haar.«
In meinem Alter und dunkles Haar. Wer, um alles in der Welt, kann das gewesen sein? Olaf jedenfalls nicht, und ansonsten kenne ich kaum Männer. Schon gar keine, die an meinem Schloss rummachen und das Ohr an die Tür legen.
Nervös spiele ich mit meinem Schlüssel herum. »Frau Bovenkerk, wenn Sie wieder einmal was Verdächtiges in meiner Wohnung hören, Geschrei oder Gepolter, würden Sie dann bitte die Polizei rufen?«
Frau Bovenkerk sieht mich entschlossen an. »Ja«, sagt sie. »Darauf kannst du dich verlassen. Ein Schrei, und ich hol die Polizei.«
»Danke.« Ich drehe mich um und gehe zögernd ins Treppenhaus. Frau Bovenkerk beugt sich übers Geländer, als ich die Treppe runtergehe.
»Alles in Ordnung?«, ruft sie.
»Ja.«
»Ich bleib hier stehen, bis du drin bist. Wenn was ist, rufst du, ja?«
Ich muss fast lachen und beiße mir auf die Lippe, während ich die Tür aufmache.
Finster und still empfängt mich meine Wohnung. Ich knipse das Licht an, und mit einem Schlag ist da mein vertrautes Zuhause.
»Sabine? Alles in Ordnung?«, schallt es von oben.
»Ja, Frau Bovenkerk!«, rufe ich. »Gute Nacht!«
»Gute Nacht, Kind!«
Ich mache die Tür zu, lege die Kette vor und schließe ab. Sekundenlang stehe ich unschlüssig im Wohnzimmer, dann schleppe ich einen Stuhl in den Flur und stelle ihn vor die Tür. Die Lehne reicht genau bis unter die Klinke.
Halbwegs beruhigt gehe ich ins Bad und mache die Dusche an. Ich ziehe mich aus und lege mein Handy neben die Duschwanne – in Reichweite. Dann erst gehe ich unter den warmen Strahl, bleibe dort lange stehen und halte das Gesicht ins prasselnde Wasser.
KAPITEL 27
Im Sekretariat herrscht himmlische Ruhe. Die meisten Kollegen sind auf Krankenbesuch bei Renée, die zwar nicht mehr auf der Intensivstation liegt, aber mit einem Beinbruch und einem Milzriss wohl nicht so schnell wieder hier auftauchen wird. Auf der Intensivstation war sie, weil sie Rauch in der Lunge und schlimme Atemnot hatte. Inzwischen geht es ihr besser.
Ich habe meinen Namen auf die alberne Karte mit der Maus mit Gipsbein geschrieben und
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