Klassentreffen
nicht.«
»Aber ich weiß es! Nichts hast du davon! Es quält dich nur, und die Erinnerungen tun weh, aber davon kommt Isabel auch nicht wieder.«
Ich sage wohlweislich nichts. Das ist eindeutig kein Thema, über das ich mit Olaf reden kann. Schade, es wäre schön gewesen, wenn ich mich mit jemandem hätte austauschen können, der das alles aus nächster Nähe mitbekommen hat. Wir reden über dies und jenes, und es ist gemütlich und nett, aber irgendwie bin ich doch enttäuscht von dem Abend.
Das Dessert schenken wir uns. Wir fahren durch die Stadt, und Olaf begleitet mich bis nach Hause, aber ich bitte ihn nicht mit hoch. Wir küssen uns vor dem Haus. Olaf drückt mich gegen die Tür, sein Mund wandert zu meinem Hals, und er fasst mir unter den Pulli. Ich lasse ihn gewähren, obwohl mich seine Zudringlichkeit stört. Möglichst sanft schiebe ich ihn schließlich weg.
»Ich bin todmüde«, entschuldige ich mich. »Bin ich froh, wenn ich im Bett liege!«
Olaf zieht die Augenbrauen hoch. »Müde? Was soll denn das nun wieder? Wovon bist du müde?«
Ich zucke mit den Schultern. »Von der Arbeit und so … Außerdem war ich den ganzen Nachmittag in Den Helder.«
»Und davon bist du so müde, dass du nichts mehr mit mir trinken kannst? Nicht mal ein Gläschen?«
Ich mache ein hilfloses Gesicht, um ihm klar zu machen, dass ich’s nun mal nicht ändern kann.
»Sabine! Es ist gerade erst zehn Uhr!«
Sein misstrauischer Blick gefällt mir ganz und gar nicht.
»Tut mir Leid, ein andermal«, sage ich kurz und knapp und drehe mich zur Tür.
»Nur ein Glas! Nun komm schon! Wir machen’s uns gemütlich! Ich versprech dir auch, dass ich nicht lange bleibe«, drängt Olaf und küsst mich in den Nacken.
Ich bin mir sicher, dass es nicht dabei bleiben wird. Lächelnd schüttle ich den Kopf. Im gleichen Moment sehe ich so etwas wie Wut in seinen Augen aufflackern. Oder bilde ich mir das nur ein? Als ich ihn genauer anschaue, wirkt er wieder normal.
»Wann seh ich dich wieder?«, fragt er.
»Morgen.«
»Bei mir zu Hause. Ich kümmere mich ums Essen. Was magst du denn gern?«
»Hähnchen-Chapati«, sage ich.
Olaf verzieht das Gesicht. »Chapati? Wie macht man das denn?«
Ich lache, ziehe ihn kurz an mich und küsse ihn. »Ich hab dich doch nur veralbern wollen. Ist mir egal, überrasch mich einfach.«
»Okay, schlaf gut.« Er küsst mich noch einmal, schwingt das Bein über die Fahrradstange und wartet, bis ich im Haus bin. Lächelnd werfe ich ihm eine Kusshand zu und schließe die Tür hinter mir.
Ich gehe die Treppe hoch und bleibe lauschend auf dem Absatz stehen. Frau Bovenkerk ist um die siebzig und ein bisschen schwerhörig. Sie guckt gern bis spätabends Fernsehen, und ich habe mir Ohrstöpsel gekauft, gegen die Werbejingles, die durch die Decke wummern. Auch jetzt höre ich,
wie eine enthusiastische Stimme Katzenfutter anpreist. Sie ist also noch wach. Ich gehe bis in den zweiten Stock und klopfe laut.
»Frau Bovenkerk? Ich bin’s: Sabine!«, rufe ich, damit sie nicht erschrickt.
Der Katzenfutterspot verstummt. Die Kette klappert, der Schlüssel dreht sich im Schloss, und Frau Bovenkerk späht durch den Türspalt.
»Sabine? Bist du das?«
»Ja, ich bin’s. Entschuldigen Sie die späte Störung, aber ich wollte Sie rasch was fragen.«
Sie macht die Tür ganz auf. »Komm rein, Kind, du brauchst hier doch nicht im zugigen Treppenhaus herumstehen. Ich hab mich ja so erschrocken, als es geklopft hat.«
»Tut mir wirklich Leid«, sage ich und gehe in ihr voll gestelltes Wohnzimmer. Ein Glasschrank mit unzähligen Porzellanfiguren, Gemälde von weinenden Zigeunerkindern und eine Wand voller vergilbter Fotos stechen mir ins Auge.
»Ich wollte mir gerade ein Glas warme Milch machen. Magst du auch eins?«
»Nein danke. Ich wollte Sie nur bitten, dass Sie … äh …« Ich schweige verlegen. »Tja also … dass Sie meinen Schlüssel nicht mehr anderen Leuten geben. Niemandem. Auch nicht Freunden oder Verlobten oder was auch immer sie behaupten zu sein.«
Frau Bovenkerk sieht mich überrascht an. »Nein, natürlich nicht. So was würde ich niemals tun.«
»Aber heute Nachmittag haben Sie meinen Schlüssel doch Olaf gegeben.«
»Olaf?«
»Das ist der junge Mann, mit dem ich in letzter Zeit öfter zusammen bin: groß, blond, gut aussehend.«
»Ach, der. Netter Junge. Aber nicht nett genug, dass er mir deinen Schlüssel abschwatzen könnte.«
»Aber heute Nachmittag …«
»Ich hab deinen Freund nicht
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